We are built to love – Kleine Analyse der Nicht-Beziehung

Die Nicht-Beziehung sieht augenscheinlich aus wie eine Beziehung, wird aber nicht so benannt, um Verantwortung, Erwartungen, Verpflichtungen und Bindung zu vermeiden. Ich frage mich, wieso Beziehungen so bedrohlich erscheinen.

Ich bin kürzlich auf das – angeblich – neue Phänomen der „Nicht-Beziehung“ („non-relationship“) gestoßen und einigermaßen verstört von dem, was ich da lese. Da ich mich nun seit mehreren Jahren mit konventionellen und nicht-konventionellen Beziehungskonzepten beschäftige, dürfte ich eigentlich nicht überrascht sein. Dennoch stellt sich mir, wieder einmal, die Frage: Was ist da draußen nur los??
Die Nicht-Beziehung sieht augenscheinlich aus wie eine Beziehung, wird aber nicht so benannt, um Verantwortung, Erwartungen, Verpflichtungen und Bindung zu vermeiden. So bleibt eine gewisse Unbestimmtheit erhalten, die einerseits die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse (Nähe, Unterhaltung, Sex) sichern, anderseits aber auch die persönliche Freiheit und Autonomie gewährleisten soll. Man gibt sich einer Illusion der Unverletzbarkeit hin. Wenn man nicht „zusammen“ ist, hat man keine Erwartungen zu erfüllen und somit keinerlei Verantwortung für die Gefühle der Partner*in. Die Nicht-Beziehung wird offenbar für ein typisches Phänomen unserer heutigen Gesellschaft und derzeitigen Beziehungskultur gehalten. Darum lohnt es sich meiner Meinung nach, sie sich einmal genauer anzuschauen.

Wir haben Angst voreinander

Das Meiden echter Bindung scheint sich immer weiter zu verbreiten. Die Liebesbeziehung scheint bedrohlich, weil mit ihr ein Konglomerat von Verpflichtungen einhergeht, die nicht verhandelbar scheinen und die eigene Autonomie gefährden.

Wir wachsen als Bürger eines Rechtsstaates auf und betrachten uns als mit Rechten bewehrte Subjekte (zum Beispiel Menschenrechte, Umtauschrecht). Unsere Rechte sind der einzige Weg, unsere Bedürfnisse durchzusetzen. Mir scheint, wir betrachten die Welt von einem Rechtsstandpunkt aus und übertragen dies auf unsere Beziehungen. Beziehungen haben überwiegend Vertragscharakter und die Rechte, die wir aus diesem Vertrag ableiten, sind einklagbar. Die Inhalte dieser Verträge haben moralischen Charakter und sind gesellschaftlich vorbestimmt. Da Menschen tendenziell moralisch sein wollen, werden diese selten hinterfragt. Selbst wenn Beziehungen verhandelt werden, werden sie meist von der Erlaubnisseite her besprochen, nicht von der Bedürfnisseite her, was nur möglich ist, wenn man davon ausgeht, dass man aneinander Rechte habe. Dies ist tendenziell brutal gegenüber den Bedürfnissen des jeweils anderen und mündet oft in Gewalt. Denn im Extremfall folgt hieraus, das man berechtigt ist, über das Verhalten der Partner*in zu bestimmen und umgekehrt die Pflicht, sich ihren Bedürfnissen anzupassen. Können sich die Partner*innen nicht genug aneinander anpassen und verletzen so allzu oft die Vertragsregeln, ist eine schmerzhafte Trennung unausweichlich. So richtig verletzend wird es dann, wenn es einem oder beiden Partner*innen nicht gelingt, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sie sich selbst dafür entschieden haben, sich bzw. ihr Verhalten für die Partner*in zu verändern. Denn dann fangen die Partner*innen an, sich gegenseitig dafür zu hassen, dass die andere ständig die eigenen Grenzen übertritt. Kein Wunder, dass wir vor diesem Szenario Angst haben.

Anderen Menschen zu vertrauen und uns auf sie einzulassen fällt uns offenbar schwer. Verträge macht man doch eigentlich nur, wenn man einander nicht traut, wenn man sogar feindliche Anliegen hat oder solche vermutet (der Ehevertrag beispielsweise dient ja dazu, die eigenen Interessen zu sichern, sollte mir meine jetzige Liebespartner*in in Zukunft „feindlich“ gesonnen sein). Wichtige Grundbedürfnisse des Menschen (Verbundenheit mit Menschen, mit der Welt, mit etwas Höherem) fallen in dieser Logik komplett unter den Tisch. Jeder ist auf sich selbst angewiesen und für die Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse verantwortlich.

FOMO („fear of missing out“) – das Gras da drüben ist bestimmt grüner

In einer Zeit, in der Selbstoptimierung, persönliche Freiheit und Erfüllung, individuelle und flexible Lebensführung, Spontaneität und Autonomie an erster Stelle stehen, scheint eine dauerhafte Bindung wenig Sinn zu machen. Die Angst, etwas zu verpassen, erfordert ständige Ambivalenz. Sehnt man sich trotzdem nach dauerhafter Intimität und Verbindlichkeit, muss man sehr sorgfältig prüfen, ob man sich mit der „richtigen“ Person, der optimalen Partner*in einlässt, um nicht allzu viele Kompromisse eingehen zu müssen und die Wahrscheinlichkeit, verletzt zu werden, zu minimieren. Die Nicht-Beziehung lässt einen Notausgang offen, weil man zeitgleich nach Mr. oder Mrs. Right Ausschau halten und das Verhältnis jederzeit ohne größere Komplikationen beenden kann.

Es ist zudem problemlos möglich, gleichzeitig mehrere Nicht-Beziehungen unterschiedlichen Typs zu haben. Wir bewegen uns von einer Produktionsökonomie zu einer Serviceökonomie und übertragen diese Logik auch auf unsere Beziehungen. Meines Wissens nach waren in Partnerschaften früher eher Kameradschaft, finanzielle Sicherheit und Familiengründung wichtig, heute überwiegen Bedürfnisse nach gemeinsamer Freizeitgestaltung, körperlicher Attraktivität und Wertschätzung. Die Bedürfnisse, die Beziehungen heutzutage erfüllen sollen, können offenbar voneinander abgekoppelt und mit verschiedenen Menschen ausgelebt werden.
Das finde ich an und für sich gar nicht verwerflich. Die in den Texten durchscheinende Ambivalenz, das Verleugnen der eigenen Bedürfnisse und der der andern, die unklare oder fehlende Kommunikation und mangelnder Respekt für die Gefühle aller Beteiligten mutet mir jedoch arg befremdlich an. Werden hier menschliche, fühlende Wesen zu reinen Bedürfniserfüllern degradiert, die jederzeit ersetzt oder fallengelassen werden können?

Die Überfrachtung der Liebesbeziehung

Die klassische monogame Zweierbeziehung wird heutzutage idealisiert und mit Bedeutung und Ansprüchen überfrachtet. In Zeiten, wo es aus ökonomischen Gründen erforderlich schien, dass zwei Menschen sich lebenslang exklusiv aneinander binden, war die monogame Ehe ein sinnvolles Modell. Für ihren Erfolg war es oft erforderlich, dass man Kompromisse machte und sich aneinander anpasste. Oft hing sogar das Überleben der Familie davon ab, wie verlässlich, harmonisch und vorhersehbar die Ehepartner miteinander agierten. Man orientierte sein Handeln an Pflichten, Verbindlichkeiten und Loyalität.

Die Welt hat sich seither sehr verändert. Andere Werte bestimmen unser Leben. Es besteht keinerlei Notwendigkeit mehr, sich monogam und/oder lebenslänglich zu binden. Das Liebesideal ist jedoch erstaunlicherweise noch immer dasselbe. Nicht nur das: Statt davon auszugehen, dass eine Ehe oder Partnerschaft Arbeit und Opferbereitschaft erfordert, um gemeinsame Ziele verfolgen zu können, wird gegenseitige Anziehung als Indiz für eine sorgenfreie, stabile Zukunft gedeutet, was häufig zu Problemen führt.

Erschwerend hinzu kommt, dass die monogame Zweierbeziehung als der einzig angemessene und sichere Ort gilt, um Bedürfnisse nach Nähe, Intimität, Verbindung und Geborgenheit zu erfüllen. Hartmut Rosa beschreibt, wie die Liebe und die Familie zum wichtigsten, wenn nicht einzigen Hafen in einer modernen Welt wird, die von Konkurrenzkampf und Wettbewerb um begrenzte Ressourcen (zum Beispiel Wohlstand, Macht, Freund*innen) geprägt ist. Die Liebe gilt als Gegenutopie zur Marktgesellschaft, wo Erfahrungen gemacht werden können, die nicht auf Benutzung oder Kampf eingestellt sind. So zumindest sieht die Idealvorstellung aus. Wie oben beschrieben, wird die Realität diesem nicht immer gerecht.

Die alten Beziehungsideale sind überholt, Alternativen noch nicht etabliert

„We are build to love“ stellt Helen Fisher, Anthropologin und Expertin für die sogenannte „romantische Liebe“ in einem Ted Talk fest. Die Regeln und Tabus des Balzens haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt, doch das Bedürfnis, ja der Drang, zu lieben verändert sich nicht. Seit Langem gibt es Versuche, diese Regeln bewusst zu verändern, um unsere Bedürfnisse nach Verbundenheit, Intimität und Sicherheit jenseits der gängigen Beziehungsnormen befriedigender auszuleben. Innerhalb der immer bekannter werdenden Subkultur der einvernehmlichen Mehrfachbeziehungen wird versucht, Beziehungen mehr von der Bedürfnisseite her zu gestalten. Statt zu versuchen, die Partner*in zu verändern, kreiert man gemeinsam individuelle Beziehungskonzepte, die zu den Bedürfnissen aller Beteiligten passen. Oft werden jedoch noch immer Verträge beschlossen, die sicherstellen sollen, dass die eigenen Grenzen und Bedürfnisse geschützt werden.

Das Phänomen der Nicht-Beziehung erinnert mich stark an Unterströmungen dieser Subkultur wie „Solo-Polyamorie“ und Beziehungsanarchie, wo Verträge, Labels und damit verbundene Erwartungen und Ansprüche äußerst kritisch betrachtet werden (Stichwort: „relationship escalator“). Vielerorts wird ein Ideal der völligen Erwartungslosigkeit proklamiert, sodass bestimmte Bedürfnisse und insbesondere Forderungen peinlich werden. Misstrauen und Ängste hindern uns offenbar auch jenseits des „Beziehungs-Mainstreams“, uns den Menschen vertrauensvoll hinzugeben in dem Wissen, dass ihnen an unserem Wohlbefinden gelegen ist und ihre Autonomie nicht an und für sich bedrohlich ist.

Wenn wir eine Kultur der Freiheit und des Vertrauens etablieren wollen, ist es notwendig, Strategien von Bedürfnissen zu trennen. Bedürfnisse wie Sicherheit und Geborgenheit können auf viele verschiedene Arten und Weisen  erfüllt werden, nicht nur durch gängige „Bindungsanzeiger“ wie sexuelle Exklusivität, gemeinsamer Wohnraum oder ein Ring am Finger. Offene Kommunikation, Respekt und Wertschätzung für die Menschen und Beziehungen unterscheiden meines Erachtens die Nicht-Beziehung von sogenannten Mehrfach-, Polyamoren oder anarchistischen Beziehungen. Liebe bemisst sich aber eigentlich nicht in gemeinsam verbrachter Zeit, räumlicher Nähe, Häufigkeit von Sexualität oder Zahl der Textnachrichten pro Tag. Meiner Ansicht nach ist das essenzielle Bedürfnis unserer Herzen, sich zu öffnen und sich einzulassen (auf Menschen, aber auch auf die Welt, die Natur…). Hartmut Rosa beschreibt dies als Bereitschaft, aufeinander wechselseitig in Resonanz zu reagieren. Ein Resonanzverhältnis kann in einer bestimmten Situation unmittelbar und intensiv erlebt werden, kann sich aber auch auf die gesamte Beziehung ausweiten, wenn die Begegnung und Interaktion der Liebenden über die Zeit als ein einziges Resonanzverhältnis begriffen wird. Dieses Gefühl von Verbindung ist unabhängig von den momentanen autonomen Handlungen der Beteiligten.

Wieso wird einvernehmlichen Mehrfachbeziehungen mit Irritation, Skepsis und Verunsicherung begegnet, häufig sogar mit Vorurteilen und Stigma, während die sogenannte Nicht-Beziehung vollkommen legitim zu sein scheint, eben ein typisches Phänomen unserer Zeit? Vermutlich ist es leichter, die Nicht-Beziehung in vorhandene Kategorien von Beziehungen einzuordnen, während für die Praxis der Mehrfachbeziehungen und ihrer Ausdrucksformen neue Kategorien, mindestens aber ein neues Vokabular erfunden werden müsste. Die Grenzen unserer Sprache bestimmen die Grenzen dessen, was es gibt, sowie die Formen der möglichen Bezug- und Stellungnahme dazu. Mithilfe einer neuen Sprache, sowie durch Handeln und Sichtbarkeit können Normalitätsgrenzen verschoben werden. Wir leben zudem in einer Welt, die von Anerkennungspraxen gesteuert wird; über Anerkennung bezieht die „Normalität“ ihre Macht. Unabhängig davon, wie wir unsere Beziehungen gestalten, liegt es also in den Händen beziehungweise Mündern jeder einzelnen von uns, eine neue Beziehungskultur zu entwickeln, die unsere Herzen mehr schont und mehr erfüllt als die gängige Praxis.

Den Anstoß zu diesem Text und viele hilfreiche Gedanken gaben ein Hinweis von Christian, Cloudys wundervolles Teach-In Einvernehmliche Mehrfachbeziehungen im Ewaldshof, ein köstliches Gespräch mit einem weiteren Christian und ein fabelhaftes unveröffentlichtes Manuskript von Julio Lambing. Vielen Dank.

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