Can´t Take My Eyes Off You (Skript zum Vortrag)

Viele von uns glauben, dass sie frei und selbstbestimmt lieben würden. Normen werden häufig mit Naturgegebenheiten verwechselt und bleiben deshalb unhinterfragt – oder werden sogar ganz und gar übersehen. Das Gestalten von liebevollen Verhältnissen, das Beschreiben und Ausdrücken von Gefühlen sind immer auch – vielleicht sogar in erster Linie – kulturelle Hervorbringungen. Heutzutage wird unsere kollektive Vorstellungskraft von der kulturgeschichtlich relativ jungen Mythologie der Romantischen Liebe geprägt und das Gefühl der Liebe damit in eine ganz bestimmte narrative Form gegossen. Konventionen des Sich-näher-Kommens bestimmen unser Verhalten und unser Erleben. Wie frei sind wir wirklich? Und: Wollen wir eigentlich so lieben, wie wir lieben?

Normen und Konventionen durchdringen unser Leben bis ins Intimste. Deswegen teilen wir bestimmte Auffassungen darüber, wie sich Liebe anfühlt, wie sie sich ausdrückt, wie man eine Liebesbeziehung gestaltet. Dieses moderne Liebesideal basiert auf unseren heutigen Auffassungen über die Welt, unserem Menschenbild und unserem Konzept vom Selbst.

Der „Klassiker“: Romeo und Julia. Moderne Darstellungen von Liebespaaren ähneln nach wie vor sehr stark dem, was wir auf dem Gemälde von Frank Dicksee aus dem Jahre 1884 sehen: Ein Mann, eine Frau, innig verbunden, in schöner bis kitschiger, weitgehend nichtssagender Umgebung. Darstellungen von Paaren der letzten 4000 Jahre geben Anlass zu der Vermutung, dass das Aufeinander-bezogensein und einander Be-glücken beim Lieben nicht immer im Vordergrund stand. Die Paare schauen in der Regel gemeinsam in die Welt; die Darstellungen drücken Status, Würde und Bodenständigkeit aus. In griechischen Mythen kommt die Liebe häufig vor, allerdings nicht in Form von erbaulichen Liebesgeschichten: Die Liebe spielt eine Rolle als Schicksal, als Widerfahrnis, der man sich nicht ohne weiteres entziehen kann, als Gefahr für die soziale Ordnung, als Grund für vielfältige Abenteuer und sogar Kriege. Ihr Vollzug als solcher wird kaum thematisiert. Dies ändert sich im abendländischen Mittelalter, wo das Lieben in Form der Minne in aristokratischen Kreisen zur Kunstform erhoben wird. Es handelt sich um eine Form sentimentaler Verehrung vonseiten des Mannes, der versucht, die Gunst seiner Angebeteten mit Liedern, Gedichten, Geschenken und anderen Liebesdiensten zu gewinnen. Gelebte Erotik kam in diesem Liebesideal nicht vor, und die Liebenden wurden nie ein „Paar“. Es ging hier nicht darum, einander bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen, sondern darum, seinen Gefühlen kunstfertig und bestimmten ästhetischen Konventionen entsprechend Ausdruck zu verleihen. Ähnlich im Rokoko, wo sich zahllose stereotype Darstellungen von jungen, schönen, müßigen Paaren in sorgfältig gestalteter Landschaft finden. Liebe wird künstlerisch in Szene gesetzt und ist insofern weder natürlich noch individuell. Höfische Liebesfertigkeiten sind Selbstzweck und haben geschmackvoll und prunkvoll zu sein. Die ersten Darstellungen romantischer Liebe, also aufeinander bezogener, individueller Paare, tauchen im 18. Jahrhundert auf. Diese Veränderung spielt sich nicht in der Aristokratie ab, sondern im aufstrebenden Bürgertum. Es wird noch bis ins 20. Jahrhundert dauern, bis sich dieses Liebesideal in der Gesamtgesellschaft durchsetzt und sogar mit der Institution Ehe verschmilzt, die bisher eher Solidargemeinschaft und ökonomische Einheit war. Leidenschaftliche Liebe soll nun die Lebensgemeinschaft herstellen; nicht nur das: Sie soll sie auch auf Dauer tragen. Die Romantische Liebe ist jetzt also nicht mehr nur ein Gefühl, sondern auch eine soziale Institution.

Kleiner historischer Exkurs

Im Zuge der Industrialisierung beginnt im 18. Jahrhundert eine tiefgreifende Umgestaltung der Arbeitsbedingungen sowie ökonomischer und sozialer Verhältnisse. Die Fragmentierung der Gesellschaft in Funktionseinheiten zieht eine Schwächung der sozialen Bande nach sich. Beziehungen sind zunehmend utilitaristisch und ökonomisch geprägt. Nicht nur in den Fabriken ist der Mensch nun vielfältigen Kontrollmechanismen ausgesetzt, die ihn zu einem optimal funktionierenden Teil der Maschine zu machen versuchen. Im 19. Jahrhundert entfaltet sich der Liberalismus als breite politische Strömung, in dessen Zentrum die Freiheit des Menschen und die Ablehnung politischer, sozialer und geistiger Bevormundung steht. Dem Zerfall traditioneller Bindungen steht eine zunehmende Selbstbestimmung der Individuen gegenüber, die allerdings nicht nur Freiheit von Bevormundung, sondern auch Orientierungslosigkeit mit sich bringt. Lebensweltliche, staatliche, institutionelle und ideale Ordnungen, in denen sich die Lebenserfahrungen bisher strukturierten, sind nicht mehr selbstverständlich.

Drinnen und Draußen

Wir leben mittlerweile in einer Kultur, in der das Individuum und dessen persönliches Glück und Entfaltung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Sich gut zu fühlen ist dementsprechend Sinn und Zweck des Sich-Verliebens geworden. Die Liebesbeziehung, die einen großen Teil des Privatlebens ausmacht, soll eine Art Gegenwelt sein, wo Behaglichkeit, emotionale Nähe und Wärme vorherrschen. Sie verspricht Schutz vor den Unbillen, Widerfahrnissen und der Komplexität des Lebens. In dem Maße, wie unser Überleben in einer als kalt und entfremdet wahrgenommenen Welt von unseren Liebesbeziehungen abhängt, werden sie zum Gegenstand der Beobachtung und Bewertung. Sie werden nach ihrem Nutzen für die Steigerung von Wohlbefinden und Vergnügen ausgesucht; ihr Gelingen wird daran bemessen, wie viel Glück und Wohlbefinden sie bereiten. Die Struktur des modernen Verliebens und Entliebens entspricht recht genau der Struktur des Warenhandels: Auswahl, Konsum, Neukauf. Effizienzdenken, Tauschdenken und Zweckgerichtetheit werden auf Beziehungen übertragen. Liebesbeziehungen werden mit dem gleichen Vokabular beschrieben wie ökonomische Austauschbeziehungen. Ein Übermaß an Wahlmöglichkeiten blockiert die Fähigkeit, sich festzulegen und auf Verbindlichkeit und wechselseitige Verantwortlichkeit einzulassen. Dies führt zu bedeutenden Veränderungen in der Bildung romantischer Gefühle.

Die Suche nach sich

Wie finden wir heraus, was uns gut tut, was uns glücklich macht? Durch unentwegte Selbstreflexion und Selbsterkenntnis soll man sich seiner Gefühle und Handlungsmotive bewusst und damit fähig werden, sich gemäß seines „wahren Ichs“, d.h. seiner Emotionen, Bedürfnisse und Überzeugungen auszudrücken und entsprechend zu verhalten. „Authentizität“ bezeichnet so etwas wie personale Ursprünglichkeit, in der die wesensmäßige Einzigartigkeit der Person zum Ausdruck kommt. Authentizität ist fraglos wichtig; aber ein Liebesideal, in dessen Zentrum ein Regime der Authentizität steht, ist aus mehreren Gründen problematisch: Einerseits soll unsere Partnerin und unsere Partnerschaft unseren Bedürfnissen und Präferenzen entsprechen, die unsere Person definieren. Andererseits verlangt das Ideal der Selbstverwirklichung von unserem Ich, ständig beweglich zu bleiben, sich neu zu entdecken und zu vollbringen. Wir müssen uns also permanent selbst auf unsere Präferenzen und Vorlieben hin befragen – und Optionen prüfen. Je authentischer wir uns also in Beziehungen geben, desto eindrücklicher sind wir also mit ihrer Zerbrechlichkeit konfrontiert.

zu Teil 1

„When I´m With You, I Feel Perfect“

Die allumfassende wechselseitige Bestätigung und Annahme unserer jeweiligen Originalität und Wertigkeit („Komplettbestätigung“) spielt in unserem Lieben eine ganz wesentliche Rolle. Die Liebe soll uns durch die Vermittlung des Blicks des anderen aufwerten und durch einen ununterbrochenen Fluss von Praktiken, Signalen und Zeichen unseren Selbstwert absichern. Ununterbrochen deshalb, weil man sich auf diese Bestätigung nicht verlassen kann. Sie darf ja ausschließlich auf authentischen Gefühlen beruhen, die sich aber jederzeit ändern könnten. Alle Beteiligten müssen sich selbst und gegenseitig also permanent daraufhin befragen, ob die Liebe noch „echt“ ist. Die weit verbreitete quälende Angst vor Zurückweisung und Verlassen-werden weist darauf hin, dass unsere soziale Geltung nahezu ausschließlich in der Anerkennung begründet ist, die von anderen gewährt wird. Wir geraten also nahezu unweigerlich in eine Abhängigkeit von unseren Liebespartnern, weil wir außerhalb der Sphäre intimer Beziehungen keine Möglichkeit sehen, eine Identität herauszubilden und zu stabilisieren.

„You Are My Life“

Die Suche nach Wärme, das Bedürfnis nach Selbstoffenbarung und die Abhängigkeit von persönlicher Bestätigung prägen maßgeblich unser heutiges Konzept von Intimität. Intime Nähe im heutigen Verständnis hängt maßgeblich davon ab, wie viel man miteinander teilt (persönliche Gespräche, Zeit, Leben, Alltag) und mitteilt (Geschichte, Lebensumstände und alltägliche Gewohnheiten, seine Überzeugungen und Wertvorstellungen, seine Interessen und geschmacklichen Präferenzen). Maßgebliche Kriterien für Grad und Qualität von Intimität sind „Komplettberücksichtigung“ (totale emotionale Offenheit, man hat sich für alles aneinander zu interessieren), „Komplettzugänglichkeit“ (es ist in der Intimbeziehung nicht erlaubt, Persönliches der Kommunikation zu entziehen.) und „Höchstrelevanz“ (alltägliche, universelle Fürsorge und Anteilnahme und die Bereitschaft, einander jederzeit und in sämtlichen Notlagen zu unterstützen.). Ziel dieser totalen wechselseitigen Inanspruchnahme ist es, aus zwei „Ichs“ ein harmonisches „Wir“ zu konstruieren, eine eigene gemeinsame Welt. Aus der falschen Annahme, mehr Nähe erzeuge auch mehr Wärme, kombiniert mit einem großen Bedürfnis nach Sicherheit resultieren hohe Erwartungen, die unsere Beziehungen eigentlich nicht erfüllen können. Umso wichtiger wird die reflexive Überwachung der Beziehung und der zwei involvierten autonomen Willen („Gefühlsarbeit“). Sie beruht auf einer Einschätzung dessen, was befriedigende und „gesunde“ Gefühle und Beziehungen sind und äußert sich praktisch durch „Beziehungsgespräche“, in denen Bedürfnisse und Bitten geäußert und im besten Falle verstanden und erfüllt werden.

“Im Prozess”

Mit der Liebesbeziehung ist meist auch die Hoffnung verbunden, Heil und Ganz zu werden, indem man sich gemeinsam entwickelt, aufeinander einstellt und an den Herausforderungen wächst, die der Versuch mit sich bringt, in Verbindung zu sein und gleichzeitig die eigene Autonomie zu bewahren. Man versucht, sich gegenseitig beim Wachsen, Reifen und Entwickeln zu unterstützen. Die Liebesbeziehung wird also zu einem Ort, wo man seine seelischen Beschädigungen „durcharbeiten“ kann. Praktiken, Vorstellungen und Begriffe der psychologisch-therapeutischen Berufswelt haben sich auch und gerade in der Liebe verbreitet. So ist die Liebe der Ort geworden, wo wir uns selbst „erfahren“ und „erforschen“, wo sich Individualität maßgeblich konstituiert – wo wir werden, wer wir sind.

“Socially Acceptable Insanity”

Wir zahlen einen hohen Preis für diese vermeintliche Harmonie und Sicherheit. Intimität beherrscht unser Alltagsleben, weil die persönliche Beziehung in dessen Mittelpunkt gerückt ist. Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich deshalb nahezu ausschließlich auf unsere allernächste Umgebung und unsere unmittelbaren Lebensumstände. So gewinnen beide überragende Bedeutung, was unsere menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten erheblich einschränkt. Unser übermäßiges Interesse an Personen führt zu einer Unterschätzung gesellschaftlicher Beziehungen, dabei lässt die Nahwelt dem Individuum viel weniger Entfaltungsspielraum als unpersönliche Strukturen. Soziale Verantwortung und eine Definition eines gemeinsamen Guten werden unmöglich in einer Gesellschaft, in der Verhalten nur dahingehend bewertet wird, ob es dem eigenen Wohlergehen dient und ob es die Persönlichkeit der Handelnden offenbart.

Was am romantischen Leiden genuin modern ist, ist die Annahme, dass sich aus bestimmten Gefühlen automatisch eine bestimmte Beziehungsform entwickelt. Unser gegenwärtiges Verständnis von Liebe als Quelle von Selbstwert, Behagen und Unterhaltung bezeugt ein nutzenorientiertes Projekt des Ichs, bei dem es darum geht, ein Maximum an Wohlbefinden herzustellen. Skepsis ist angemessen, denn die Liebe kann nicht halten, was wir uns von ihr versprechen: Weder verschafft sie Behaglichkeit noch Sicherheit, noch erzeugt sie eine stabile Identität, noch gewährt sie den ersehnten Zustand von Verschmelzung und Einheit. Eher bringt sie uns infolge wechselseitiger Abhängigkeit in eine prekäre emotionale Situation. Weder Freiheit noch echte Verbindung können hieraus entstehen.

Dieser Text ist aus einen Vortrag entstanden, den Johannes Heck und ich am 24.2.2018 in der Werkstatt Dritter Ort gehalten haben. Vielen Dank an Johannes und alle Teilnehmer für den tollen Abend und die lebhafte Diskussion! Vielen Dank an Julio Lambing und Stefanie Imann für das Zur-Verfügung-Stellen von unveröffentlichten Texten und Räumlichkeiten, vielfältige Unterstützung und guten Rat.

Quellen und Weiterführendes:

Eva Illouz (2011): Der Konsum der Romantik

Eva Illouz (2011): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung

Eva Hanson (2017) – Unisono.

Julio Lambing (2016): Ars Armandi. Die Geburt der handelnden Liebe aus dem Sex. Unveröffentlichtes Manuskript

Michel Foucault (1983): Sexualität und Wahrheit; Bd. 1: Der Wille zum Wissen.Arendt – Vita Activa

Niklas Luhmann (1994): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität.

Richard Sennett (1990): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität.

Robert Lehmann (o.J.): Romantische Regression . Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript

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