Alternative Affinitäten

Unsere postmoderne Kultur mit ihren hohen Anforderungen an Flexibilität, Individualität, Selbstentfaltung und Selbstoptimierung macht das Gestalten langfristiger Bindungen vermeintlich zunehmend schwieriger. Gleichwohl stellt die monogame Zweierbeziehung nach wie vor die zumeist unhinterfragte „Normalität“, respektive, die Norm dar. Liebes-Subkulturen wie die Polyamorie versuchen, zeit- und den menschlichen Bedürfnissen gemäßere Alternativen zu entwerfen. Dabei reproduzieren sie jedoch in der Regel gängige Narrative und Normen so dass sie das Problem des schmerzhaften Sich-Abarbeitens an widersprüchlichen Bedürfnissen und unerfüllten Sehnsüchten nicht lösen können.

Mingles

„Ein infantiles, trotziges, wehleidiges Konzept als Umgangsform mit dem Thema Bindung, Beziehung und Liebe macht sich in unserer Gesellschaft als Routinenorm immer mehr breit und erfährt immer stärkere Zustimmung.“ schreibt Martina Leibovici-Mühlberger. Mir fiel kürzlich ihr Buch in die Hände: „Diagnose Mingle. Warum wir nicht mehr fühlen. Wie wir wieder lebendig werden.“

Mingle“ ist eine neue Wortschöpfung aus „mixed“ und „Single“ und bezeichnet Menschen, die „offiziell Single“ sind, also keine „feste Partner*in“ haben, aber gleichzeitig in einem „beziehungsähnlichen Zustand“ leben. Menschen verbringen Zeit miteinander und schlafen miteinander wie Paare, sind jedoch fortwährend darauf bedacht, einen Zustand von Unverbindlichkeit aufrechtzuerhalten. So versuchen sie, Bedürfnisse nach Geborgenheit, Sicherheit, Nähe, Intimität und Sex zu befriedigen und dabei gleichzeitig Verbindlichkeit und Verantwortung zu umgehen.

„Die Zeiten, in denen ein Kuss oder zumindest der erste Sex es besiegelten, klarmachten, dass das hier nun eine besondere und exklusive Beziehung zwischen zwei Menschen ist, sind vorbei. Leider.“ so leitet Die Welt einen Artikel zum Thema ein.

Dabei sind der/die Mingle und die entsprechende „Halb-Beziehung“ oder „Nicht-Beziehung“, keineswegs neue Phänomene. Es gab zu allen Zeiten mehr oder weniger formalisierte und subkulturalisierte Beziehungsformen jenseits der verbindlichen Zweierbeziehung. Neu sind die Labels und Schubladen, über deren Existenz Bedauern ausgedrückt wird.

Martina Leibovici-Mühlberger beschreibt in ihrem Buch anhand von Beispielen aus ihrer Praxis als Psychotherapeutin, wie kompliziert und anstrengend das Leben als Mingle für viele ist. Menschen scheinen konsumierbar und austauschbar. Sie genießen einander, ziehen sich jedoch voller Unbehagen zurück, wenn sie merken, dass eine Sehnsucht nach „mehr“ aufkommt, wenn die andere beginnt, einen etwas anzugehen.
„Überall ging es letztendlich darum, das Fühlen für ein Gegenüber möglichst draußen zu lassen, sich möglichst wenig selber einzulassen und möglichst viel von einem Gegenüber zu bekommen.“

Trotzdem scheint diese Art von Beziehungsstress von vielen als das kleinere Übel angesehen zu werden. Ob dieser Lebensentwurf zufrieden macht oder nicht, liegt an der persönlichen und bewussten Entscheidung dafür und ob sie der Bedürfnislage aller Beteiligten entspricht (ich habe den Eindruck, dass es durchaus üblich ist, mehrere solcher beziehungsähnlichen – an dieser Stelle fehlt bezeichnenderweise ein adäquates Wort: „Freundschaften“ stimmt nicht so richtig, weil man in Freundschaften in der Regel einander etwas angeht und sich einander anvertraut. „Verbindungen“? „Zustände“? – zu pflegen). Wer sich eine verbindliche Beziehung wünscht, aber keine bindungwillige Partnerin findet, leidet vermutlich unter den Schwebezuständen. Wer trotz Nähebedürfnis nicht anders kann, als in Unverbindlichkeit und Bindungslosigkeit zu verharren, leidet womöglich unter einer sogenannten Bindungsstörung.

Was führt zu diesem Leiden an der Liebe? Beziehungsweise an den sich widersprechenden Bedürfnissen nach Verbindlichkeit und gleichzeitiger Wahrung der eigenen Autonomie? Gängige Erklärungen stellen auf die moderne Gesellschaftsstruktur ab: Das Berufsleben fordert von vielen hohe Flexibilität, was das Leben zuweilen unvorhersehbar macht. Freiheit, Individualismus und Selbstverwirklichung haben höchste Priorität. Gerade bei den Jüngeren dominiert ein starker Bezug auf sich selbst und ein Fokus auf die eigenen Bedürfnisse. Und woher soll mensch denn überhaupt wissen, was mensch morgen oder nächstes Jahr wollen könnte? Hinzu kommt das unendliche Angebot des Online-Dating-Marktes und damit die Sorge, sich mit einer Festlegung die Option auf ein noch besseres „match“ zu nehmen. Die stete Suche nach der noch perfekteren Partnerin und/oder die Sehnsucht nach der von Alltag und Macken ungetrübten Euphorie des Beziehungsbeginns führt dazu, dass man sich der langfristigen Loyalität der Partnerin nicht mehr sicher sein kann. Angst vor Enttäuschung, Verletzung und Schmerz scheint viele davon abzuhalten, sich einem Menschen zu öffnen und sich einzulassen.

Die Menschen haben offenbar zahlreiche Strategien entwickelt, um mit der Zerbrechlichkeit und Austauschbarkeit von Beziehungen umzugehen. Indem sie jedoch versuchen, den Zweifeln und Unsicherheiten zu entgehen, mit denen der Prozess des Liebens und sich Bindens einhergeht, nehmen sie sich die Fähigkeit, sich auf die volle Erfahrung der Leidenschaft einzulassen und sie zu leben. Nicht nur kulturell ein gravierender Verlust.

 

Zeitgenössisches Beziehungsleiden

Meines Erachtens stößt uns das Phänomen „Mingle“ auf mehrere problematische Grundannahmen über Liebe, Beziehungen und deren Stellenwert in unserem Leben, die unsere derzeitige Beziehungskultur prägen.

1. Die Liebesbeziehung erfüllt den Zweck, uns glücklich zu machen

Beziehungen als – relativ junge – kulturelle Kategorie werden zu einem neuen reflektierten Gegenstand der Beobachtung und Bewertung. Ihr Gelingen wird vor allem daran bemessen, wieviel Genuss und Wohlbefinden sie bereiten. Unsere Angst vor Zurückweisung und Verlassenwerden wird durch den Umstand ausgelöst, dass unsere soziale Geltung nahezu ausschließlich in der Anerkennung begründet ist, die von anderen gewährt wird. Das moderne Verständnis von Liebe und Beziehung stellt auf die wechselseitige Bestätigung der eigenen Originalität und Wertigkeit ab, wir suchen uns auf narzisstische Weise selbst zu bespiegeln. Die romantische Liebe wertet uns durch die Vermittlung des Blicks des anderen auf. Die Liebe wird zu einem, im besten Falle, ununterbrochenen Fluss von Signalen und Zeichen, die den Selbstwert absichern. Es geht also in Sachen Liebe um die Frage „sein oder nicht sein“.

2.Wir fühlen uns als wehrlose „Opfer der Liebe“

Gleichzeitig vermitteln uns verbreitete kulturelle Narrative, dass wir uns ohne unser Zutun, unkontrollierbar und gewissermaßen schicksalhaft, verlieben (im Englischen bildhaft bezeichnet als „to fall in love“). Diesem Zustand von Begeisterung, Begehren, Leidenschaft und Sehnsucht fühlen wir uns wehrlos ausgeliefert. Neurologisch hat er durchaus Ähnlichkeit mit einem Drogenrausch und Sucht. Wird dieses „Gefühl“ nicht erwidert, leiden wir unter der vermeintlichen Zurückweisung, weil wir uns in unserer Persönlichkeit abgewertet fühlen. Werden wir nicht zurückgewiesen, wird die wechselseitige Zugeneigtheit für gewöhnlich als das interpretiert, was im Englischen „romantic love“ heißt, was herkömmlicherweise geradezu automatisch in eine „romantische Liebesbeziehung“ führt.

3. Liebesbeziehungen sind bedrohlich, weil sie Leid verursachen

Ich kann das Unbehagen gut verstehen, dass sich einstellt, wenn man sich in einer Bezogenheit wiederfindet mit einem Menschen, der einem schicksalhaft zugefallen ist und deren Basis die momenthafte gefühlsmäßige Reaktion aufeinander ist. Gefühle und Bedürfnisse verändern sich ständig und können auch einmal Dissonanzen hervorrufen, welche zwangsläufig zur Trennung führen müssen, wenn man das unmittelbare Wohlbefinden als einziges Qualitätskriterium der Beziehung ansieht. Wird das Vermögen, Anerkennung in der Liebe zu produzieren, nicht regelmäßig durch wiederholte Rituale inszeniert, ist unser Selbstgefühl bedroht.

Wir sind also vermeintlich der unfreiwilligen Dynamik spontaner Empfindungen hilflos ausgeliefert, während unsere Liebeswahl durch die von uns hervorgebrachten Gefühle fortlaufend erneuert werden muss. Die positiven Empfindungen, die uns ein Mensch schenkt, machen ihn somit einerseits zur besehnsuchteten Quelle und gleichzeitig zur Gefahr, weil er uns ebendiese jederzeit entziehen kann. Entscheiden wir uns dafür, uns auf eine Bindung einzulassen, liegt es daher nahe, zu versuchen, eine gewisse Macht und Kontrolle zu erlangen. Das herkömmliche Konzept von monogamer Zweierbeziehung ist sozusagen der Passierschein hierfür, in Form von „normalen Beziehungsansprüchen“. Sowohl das Empfinden von Verlustängsten und Kontrollbedürfnissen auf der einen, als auch Versuche der Ausübung von Macht und Kontrolle durch das Gegenüber werden als bedrohlich wahrgenommen und zu vermeiden versucht.

4. Die Paarbeziehung ist das erstrebenswerte Ideal

Angeblich glauben zwei Drittel der Deutschen nach wie vor an die „Liebe fürs Leben“. https://www.elitepartner.de/magazin/mingles-halb-beziehung-halb-singles.html Als „Liebesbeziehung“ wird für gewöhnlich, wenn nicht anders ausgehandelt, die klassische monogame Zweierbeziehung verstanden. Nur dort ist es legitim, romantische Liebe, Sexualität, emotionale Nähe, Intimität, Geborgenheit und ein geteiltes Leben in Kombination zu suchen und auszuleben. „Echte“ Sicherheit und Bindung können wir vermeintlich also nur mit dem einen Menschen finden, mit dem wir Sex haben und für gewöhnlich auch Wohnraum, Geld und Verantwortung teilen. Innerhalb der Kategorie „Beziehung“ entwickeln und antizipieren wir Gefühle durch die Geschichten und kulturellen Szenarien, denen wir begegnen. Dadurch sind die Regeln, wie Gefühle ausgedrückt werden, wie wichtig bestimmte Gefühle für unsere Lebensgeschichten sind und wie sie ausgedrückt werden, vorweggenommen.

Der Status „Single“ oder „Mingle“ gilt als eine Art Zwischenstadium, während man auf eine geeignete Partnerin wartet. Menschen, die diesen Lebensentwurf frei wählen und es gar nicht darauf anlegen, sich dauerhaft auf romantische und sexuelle Art zu verpartnern, geschweige denn eine Familie zu gründen, wird oftmals Bindungsunwilligkeit oder -unfähigkeit, bisweilen gar Gefühlsverflachung attestiert.

5. Autonomie und Authentizität gelten auch in Beziehungen als höchste Werte

Nach dem Prinzip der Authentizität müssen Entscheidungen das Wesen des Selbst widerspiegeln und der Dynamik der Selbstverwirklichung gehorchen, die sich wiederum im Prozess von Selbstentwicklung und Veränderung entfaltet. Gleichzeitig sollen sich Beziehungen auf unfreiwillige, spontane Gefühle stützen, die der Beziehung vorauszugehen und sie zu konstituieren haben. Kein Wunder also, dass Versprechen zu einer Last und Bürde geworden sind und für viele vermutlich schlichtweg keinen Sinn mehr machen.

Um die Autonomie der Person nicht zu gefährden, muss der Ausdruck von Gefühlen und damit die Gewährung von Anerkennung – von der anerkannten wie auch von der anerkennenden Person – unter Kontrolle gehalten werden. Die eigene Autonomie muss fortwährend zur Schau gestellt werden, um die eigene Position in der Beziehung nicht zu schwächen. Um die Autonomie des anderen zu respektieren, muss unbedingt vermieden werden, Forderungen aneinander zu stellen. Schon die Bitte um ein Versprechen kann als „Druck ausüben“ verstanden werden. Wir tun also so, als sei Verbindlichkeit nicht von vornherein in Beziehungen angelegt. Eine Bindungsabsicht gilt als Vollendung der Beziehung, nicht als deren Voraussetzung, und das obwohl wir ihr eine kontinuierliche Arbeit der Anerkennung abverlangen.

Alte Normative in neuem Gewand

Es ist mittlerweile weithin bekannt, dass es alternative Liebensformen wie zum Beispiel die Polyamorie gibt. Hier versucht man, sich von gesellschaftlich vorherrschenden Idealen zu lösen, um freier entscheiden, denken und fühlen zu können. Allein die beteiligten Liebespartner*innen entscheiden, was für sie Liebe und Partnerschaft bedeutet und wie das Miteinander gestaltet werden soll.

Doch schaut man genauer hin, sind diese Konzepte nach wie vor von gängigen Narrativen durchsetzt. Unbestritten bleibt zum Beispiel die Idee, dass wir unsere hauptsächlichen Bindungen mit Menschen einzugehen haben, mit denen wir schlafen, sowie die Stellung der romantischen Beziehungen über allen anderen. Nicht monogam lebende Menschen, insbesondere solche, die sich als polyamor bezeichnen, erweitern meist einfach, was Eleanor Wilkinson  „romantic and pair-bonding framework“ nennt, um mehrere Menschen miteinbeziehen zu können.

Ich habe den Eindruck, dass sie sogar noch größeren Wert auf Autonomie und Freiheit legen und „Abhängigkeit“ und Verantwortung für das Befinden der anderen noch mehr fürchten als Menschen in klassisch monogamen oder eben Nicht-Beziehungen. Ebenso sehr, wenn auch vielleicht anders, scheinen sie darunter zu leiden.

Diese Form einvernehmlicher Mehrfachbeziehungen schließt zudem Menschen aus, die rein sexuelle Beziehungen bevorzugen und/oder ihren Familien, Freunden oder sich selbst mehr Wert beimessen als romantischen Verbindungen. Ihr Diskurs über Liebe und Sex ist in meinen Augen immer noch zu begrenzt und individualisiert. Ebenso wie mononormativen und heteronormativen Beziehungen könnte man ihnen vorwerfen, privatisiert, individualisiert, isoliert und ultimativ eigennützig zu sein. Verantwortung trägt man ausschließlich in Bezug auf die Nächsten und Liebsten. Ein „sicherer Hafen“, wo man sich der kalten und vermeintlich feindseligen Welt und den Problemen der Gesellschaft entziehen kann. Damit verfehlt die Polyamorie ihren oftmals formulierten Anspruch, „radikal anders“ zu lieben, mit dem Ziel, zu einer positiven Veränderung der Gesellschaft beizutragen.

Was ist also, wenn wir nicht dazu beitragen wollen, die derzeitige Liebeskultur und damit auch unsere Gesellschaftsstruktur und die Ordnung der Dinge zu reproduzieren und zu verfestigen? Die Ablehnung der althergebrachten Narrative kann uns frei genug machen, um neue Wege zu finden, zu leben und zu lieben; Gemeinschaft, Gesellschaft und das gute Leben neu zu denken.

Einige Vorschläge

Die Entmachtung des Eros

Trennen wir zunächst einmal die Liebe von der „Beziehung“. Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht die Gemeinschaft mit anderen. Wir bringen uns jedoch in eine prekäre Situation, wenn wir alle, oder zumindest die meisten sozialen Bedürfnisse an einen einzigen Menschen herantragen, nur weil wir ihm auf eine bestimmte Art und Weise – „romantisch“- zugeneigt sind. Der Fokus auf die romantische Liebesbeziehung (unter anderem) als Lebensmittelpunkt und Quelle von Sinn, Sicherheit und Angenommensein hält uns meines Erachtens davon ab, uns andere Formen von bedeutungsvollen Bindungen überhaupt vorzustellen, geschweige denn, sie zu kreieren. Wenn wir diese Priorität auflösen, wird es möglich, uns mehr und anders auf verschiedenste Formen von Liebe einzulassen: familiäre Liebe, freundschaftliche Liebe, Nachbarn, Formen von Gemeinschaft. Ein breiteres Spektrum von persönlichen und intimen Bindungen, die nicht immer einen Bezug zu romantischer Liebe oder Sexualität haben, würden romantische und sexuelle Verbindungen enorm entlasten. Wir könnten uns wieder verzaubern und begehren lassen ohne Angst, vereinnahmt oder durch Zurückweisung in unserem Selbstwert gekränkt zu werden.

Die Entladung des Sex

Die Evolution hat es so eingerichtet, dass mit Körperkontakt, Sex und Orgasmen die Ausschüttung von Bindungshormonen ausgelöst wird. Bedürfnisse nach Nähe sind jedoch – schockierenderweise – hochgradig schambesetzt, weswegen wir uns mit großem Widerstand dagegen wehren. Zudem werden diese Bedürfnisse oftmals als „Verliebtheit“ interpretiert. Lange war es offenbar auch so, dass „spätestens nach dem ersten Mal alles klar ist“ – eine monogame Beziehung hatte begonnen, die wiederum ein Konglomerat von Bedürfnissen, Rechten und Pflichten mit sich brachte. Dies erklärt teilweise, warum Sexualität in unserer Gesellschaft mit einer Vielzahl von Erwartungen, Beladungen, Reglementierungen und Beurteilungen einhergeht und ganz und gar nicht „frei“ ist. Das ist in meinen Augen sehr schade.

Sexualität kann so vieles sein: Lebensantrieb; Selbstauflösung; tiefe Versunkenheit als ästhetische Erfahrung; Kommunikation; gegenseitiges Beschenken mit angenehmen Empfindungen; Verschmelzung mit einem Menschen und/oder mit dem „großen Ganzen“; vollkommene Hingabe; eine erfüllende, absorbierende Aktivität, die aus dem Fluss der Alltagserfahrung herausreicht; Selbstausdruck; Kunst; eine kognitive Erfahrung, die Wissen vom eigenen Körper und Geist sowie der Sexualpartner vermittelt. Die emotionale Beziehung zwischen den Partnern verleiht der sexuellen Interaktion weitere Bedeutungsdimensionen.

Wenn wir die damit einhergehenden Gefühle und Bedürfnisse richtig einzuordnen wissen, so glaube ich, können wir der Sexualität ihren bedrohlichen Beigeschmack nehmen und sie wieder angstfrei und kreativ genießen. Und auch die Bindung, die dadurch entsteht.

Die Liebe als Kunstwerk

Martina Leibovici-Mühlberger ist der „tiefen Überzeugung, dass die post-traditionelle Technologiegesellschaft heute an der Wasserscheide zwischen Selbstvernichtung und neuer, wirklich freier Lebendigkeit der Liebe steht. Wollen wir den Quantensprung der von uns geforderten Entwicklungsfähigkeit schaffen, sind wir gefordert weiterzuwachsen, dorthin zu wachsen, wo wir das Konzept der Liebe für uns neu zu entdecken vermögen, um der geforderten neuen Komplexität von Leben Rechnung tragen zu können. Die Anforderung besteht darin zu lernen, Liebe als eine Haltung in uns selber zu entdecken, nicht nur eine Affektion, die sich auf ein Gegenüber richtet. Liebe als etwas, das in uns selber begründet ist und in der Begegnung mit einem Gegenüber Gestalt annehmen kann.“

Wir könnten Liebe neu denken, nicht als romantische Affektion, nicht als Quelle der Selbstbestätigung, sondern als die Fähigkeit zur rückhaltlosen, offenen, annahmebereiten Begegnung.

Oder auch als Kunstwerk, das wir gemeinsam gestalten, wie Mandy Len Catron vorschlägt. Worte und Metaphern beeinflussen unsere Welterfahrung und erschaffen unsere Realität. Stellen wir uns vor, wir seien alle weniger passiv in der Liebe. Wir fielen nicht einfach so, ohne unsere Kontrolle oder unser Einverständnis in sie und in unsere Beziehungen hinein. Wir gingen hinein, unvoreingenommen und großzügig. Die Liebesbeziehung steht nun nicht mehr allein auf dem Fundament authentischer Gefühlszustände, sondern die kollaborative Erschaffung eines Werkes steht im Mittelpunkt. Sie erfordert Bemühung, Kompromisse, Geduld und gemeinsame Ziele. Jede Liebe wird so zu einem ästhetischen Erlebnis, das die Unvorhersehbarkeit der Gefühle achtet und kreativ mit den damit einhergehenden Herausforderungen umgeht. Diese Idee lässt sich nicht nur auf romantische und sexuelle Liebesbeziehungen anwenden, sondern auf alle möglichen Formen von Zugeneigtheiten und Verbindungen. Jede wird zu einem individuellen Kunstwerk, das sich an den Bedürfnissen, Fähigkeiten, Möglichkeiten, Wünschen und Zielen der Liebenden orientiert. Sie kann auf verschiedenste Weise mit anderen Liebeskunstwerken verbunden, verflochten oder Teil von ihnen sein.

Bei dieser Umdeutung von Liebe geht es nicht darum, jemandes Zuneigung zu gewinnen oder zu verlieren, sondern darum, herauszufinden, was man gemeinsam gestalten möchte. Das Vertrauen, dass man einander entgegen bringen und der Mut, den man dafür aufbringen muss, macht diese Haltung zu einem radikalen, revolutionären Akt. Denn man muss aufhören, darüber nachzudenken, was man aus einer Beziehung gewinnen möchte und anfangen, darüber nachzudenken, was man zu bieten hat.

Die Abhängigkeit als Geschenk

Wenn wir vielfältige Bindungen knüpfen, die teilweise nicht auf romantischen Gefühlen gründen und/oder die Liebe umdeuten können, dass unser Selbstwertgefühl damit nicht unmittelbar verknüpft ist, verliert die allseits gefürchtete Abhängigkeit automatisch einen Teil ihrer Bedrohlichkeit. In Familien und anderen Gemeinschaften können wir schließlich auch akzeptieren, dass wir auf verschiedene Arten (materiell, gefühlsmäßig, finanziell) voneinander abhängig sind. Dies muss nicht automatisch zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins führen.

Abhängigkeit wird beglückend, wenn wir uns einem oder mehreren Menschen nicht geben, um uns selbst zu füllen und „ganz“ fühlen zu können, sondern um gemeinsam Leben zu gestalten. Wechselseitige Abhängigkeit zu akzeptieren bedeutet die Anerkennung unseres Menschseins als zoon politikon, als Wesen, das in der Gemeinschaft seine höchste Bestimmung findet. Maßvolle, freudvolle und lustvolle Abhängigkeit zelebriert die Gemeinsamkeit, ohne die Autonomie der einzelnen zu gefährden. Wir schenken und werden beschenkt (z.B. mit Aufmerksamkeit, liebevollem Umgang, Dingen, Hilfe).

Es ist möglich, eigenständige Wesen zu bleiben und gleichzeitig Verantwortung auch für die Gefühle der anderen zu übernehmen. Wir sind schließlich für das verantwortlich, was wir uns vertraut machen. Jede Macht eines Gegenübers ist ihm von uns selbst verliehen und sollte sich nur aus ihrem achtsamen Gebrauch begründen. Wenn wir aus freier Entscheidung und wohlüberlegt Beziehungen beginnen können, werden wir im besten Falle Menschen wählen, die mit der Macht und Verantwortung, die wir ihnen verleihen, sorgsam umgehen.

Eva Illouz schreibt: „Das Vermögen, aus Beziehungen und Gefühlen Sinn zu beziehen, lässt sich eher bei denjenigen Bindungen antreffen, die das ganze Selbst in Anspruch nehmen und die es ihm ermöglichen, sich auf selbstvergessene Weise auf eine andere Person einzulassen (wie es auch Modell idealer Freundschaft voraussetzt). Darüber hinaus befreit uns eine leidenschaftliche Liebe von der Ungewissheit und Unsicherheit, die den meisten Interaktionen eigen ist, und stellt in diesem Sinne eine äußerst wichtige Quelle dar, um zu verstehen und zu verwirklichen, was uns wichtig ist. Diese Art von Liebe strahlt vom Innersten unseres Selbst aus, mobilisiert unseren Willen und vereint eine Vielzahl unserer Begierden. Diese Art Liebe hilft der Charakterbildung und ist letztlich die einzige, die uns einen Kompass an die Hand geben kann, um unser Leben zu leben. Der Zustand der Unentschlossenheit darüber, was wir lieben – wie er durch ein Übermaß an Wahlmöglichkeiten, die Schwierigkeit, seine eigenen Gefühle durch Selbstprüfung zu ermitteln, und das Ideal der Autonomie verursacht wird – verhindert leidenschaftliche Bindungen und verdunkelt letzten Endes für uns selbst, wer wir uns selbst und der Welt gegenüber sind.“

Wenn wir uns Verbindlichkeit und Sicherheit wünschen, so müssen wir akzeptieren, dass sie mit Verantwortung und Abhängigkeiten einhergehen. Auch ist es notwendig, uns unserer weiter gesteckten Ziele bewusst zu werden und unser Handeln danach auszurichten. Dabei unmittelbare Bedürfnisbefriedigungen auch einmal hinten anzustellen. Es ist schlichtweg nicht möglich, sich nur die Rosinen aus dem Kuchen zu picken.

Die Zeiten als der erste Kuss “es” besiegelte, sind vorbei – zum Glück. Unter einer menschenfreundlichen Liebeskultur stelle ich mir eine vor, in der wir uns an Werten wie Mut, Umsicht, Fürsorge, Mitgefühl, Offenheit, Wertschätzung orientieren.

Wo wir uns gegenseitig darin unterstützen, Tugenden zu erwerben, die es uns ermöglichen, soziale Strukturen aufzubauen, die uns nicht nur mit persönlichem Wohlbefinden, tragfähigen Freundschaften, Liebe und Sex versorgen, sondern uns auch helfen, unsere Aufgabe, Sinn, Erfüllung und Sicherheit zu finden.

Ein herzlicher Dank an Heide für die Buchempfehlung und an all die klugen und weisen Menschen, die meine Gedanken hierzu inspiriert haben.

Quellen und Weiterführendes:

Eva Illouz – Warum Liebe wehtut

Martina Leibovici-Mühlberger – Diagnose: Mingle. Warum wir nicht mehr fühlen. Wie wir wieder lebendig werden.

Eleanor Wilkinson – What´s queer about non-monogamy now?
Mandy Len Catron – A better way to talk about love

Ein unveröffentlicher Text von Julio Lambing. Vielen Dank.

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