Sexuelle Kultur I: Einleitung

Sex wird gern als das “Natürlichste von der Welt” bezeichnet. Das mag auf die allermeisten Tiere und Pflanzen zutreffen, für Menschen stimmt es jedenfalls nicht.

Wir sind soziale Wesen, die mittels Abstraktion und Sprache ihre gesellschaftlichen Strukturen, Wertvorstellungen, Regeln und Tabus verhandeln. Sexuelle Bedürfnisse mögen natürlich sein, sexuelles Handeln, sogar sexuelles Erleben sind immer auch, wenn nicht zum großen Teil kulturell geformt.
Menschliche Sexualität ist komplex, diffus und widersprüchlich. Entsprechend trifft dies auch auf unsere gesellschaftliche Haltung ihr gegenüber und auf unsere sexuelle Kultur zu. In der westeuropäischen Kultur ist die Haltung zur Sexualität durch zwei Entwicklungen wesentlich beeinflusst: Erstens die Abwertung des Leiblichen, wie sie in der Philosophie und im Christentum vollzogen und propagiert wurde. Zweitens die Erfindung der Sexualität als Untersuchungsobjekt in der Neuzeit im Zuge der Entwicklung abgegrenzter wissenschaftlicher Betätigungsfelder, die Michel Foucault scientia sexualis nannte. Eine ars amatoria, eine Liebeskunst, fehlt.

Es ist kein Zufall, dass Neotantra und Kamasutra im europäischen Westen so viel Anklang finden. Wobei leider oft übersehen wird, das Sexualität im indischen Tantra nur eine von vielen (teilweise düster-morbiden) Techniken ist, die dazu dienen, auf dem Weg zur Erleuchtung voranzuschreiten; und dass das Kamasutra ein Lehrbuch zur Lebenskunst ist, dass das sinnlich-leibliche Vergnügen lediglich hervorhebt. Sexstellungen bilden darin nur ein kleines Kapitel. Beides fehlt in der konventionellen sexuellen Kultur unserer Gesellschaft: Die spirituelle Anbindung des sexuellen und die Integration von Sinnlichkeit als zu wertschätzende im Aspekt eines beglückenden Lebens.

Zur “konventionellen sexuellen Kultur” zähle ich beispielsweise Pornografie, viele Formen der Sexarbeit, Tinder, Aufklärungsunterricht, Swingerclubs, Schwulensaunas, norm-konformes Balzverhalten, norm-konforme Paarsexualität, die Gleichstellung oder Diskriminierung sexueller Minderheiten, Sexualwissenschaft und -Therapie, Chatrooms, Debatten wie #metoo, #yesmeansyes,# notallmen, #yesallwomen und die meisten Ratgeber in Buchform und auf YouTube.

Obwohl angeblich seit Jahrzehnten “befreit“, ist diese sexuelle Kultur alles andere als sex-positiv, wenn wir unter Sex-Positivität die Wertschätzung und den Genuss sinnlichen Vergnügens als Selbstzweck verstehen. Das bedeutet: Nicht als Indikator für unseren Selbstwert oder Marktwert. Nicht zur Wahrung des lieben Ehe-Friedens. Nicht als Ersatz für emotionale Intimität. Nicht, weil ein Tinder-Date nunmal darauf hinausläuft. Nicht zum Zwecke der “Heilung” oder “Erleuchtung”. Die Hoffnungen der sexuellen Revolution auf gesellschaftliche Veränderung und sexuelle Befreiung haben sich nur zum Teil erfüllt, im Gegenteil: Mittlerweile ist eine solche Übersättigung mit sexuellen Reizen eingetreten, das eine gewisse Taubheit und Langeweile aufzukommen scheint. Überdies führt die “Individualisierung des Leidens” (eine Formulierung von Eva Illouz) dazu, dass wir für unsere Probleme in erster Linie und selbst verantwortlich machen und dabei immer mehr vergessen, dass die Gesellschaft in der wir leben, einen wesentlichen Anteil daran hat. Dabei geraten die Möglichkeit und Verantwortung, unsere Situation aktiv zu verändern, aus dem Blick. Seine revolutionäre Sprengkraft hat der Sex jedenfalls verloren.

Nichtsdestotrotz sind wir von einem entspannten Umgang noch weit entfernt. Das lässt sich an der Debatte um das Verbieten, Erlauben oder Reglementieren von Sexarbeit trefflich beobachten: Sexarbeit folgt beispielhaft der kapitalistischen Logik, nach der sämtliche menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten auf ihren Marktwert hin abgeklopft werden. Wieso wird dann so viel Wind darum gemacht (Sextourismus und Einwanderung zum Zwecke des erotischen Gelderwerbs sind zu verurteilen, Fußballer dürfen aber international verkauft werden…)? Sachlich geht es selten zu, stattdessen wird die Bühne von Klischees bevölkert. Die Hure als unmündiges Opfer, das gerettet werden muss. Oder: Die Hure als raffinierte Geschäftsfrau, die sich an den Nöten untervögelter Männer bereichert. Der Freier als Täter, der Frauen bloß zu erniedrigen sucht. Oder: Der Freier als bemitleidenswert der Trottel, der seinen Trieben willenlos ausgeliefert ist. Zuhälter*innen in und Bordellbetreiber*innen bilden eine böswillige Lobby, die sogar diverse Verbände und Organisationen unterläuft, die sich für die Belange von Sexarbeiter*innen einsetzen. Oder: Selbstbestimmte und freiwillige Sexarbeit bildet die Regel, nicht die Ausnahme. Die einen fürchten das “Rotlichtmilieu” als Brutstätte gesellschaftlichen Verderbens (ganz anders als Börsenspekulation, Fundamentalismus oder Waffenhandel), die anderen feiern freiwillige Sexarbeit als heiligen Gral der sexuellen Selbstbestimmung. Dazwischen gibt es fast nichts. Undine de Rivière, Laurie Penny, Ilan Stephani und Mithu Sanyal bilden erfreuliche Ausnahmen).
Vergessen wird dabei gern dreierlei: 1. Die angeblich verwerflichen Formen von Sexualität machen die Höherbewertung anderer Formen ersten möglich. Je hässlicher die Auswüchse der Prostitution, desto edler erscheint Erotik in Partnerschaft und Ehe. 2. Die Thematik sollte uns eigentlich eindrücklich darauf hinweisen, das im Verhältnis unserer Sehnsüchte und Triebe zum realen Leben etwas nicht stimmt. 3. Um Frauen aus Ausbeutung Verhältnissen zu befreien, müssen auf ökonomischer, rechtlicher, und sozialer Ebene Veränderungen stattfinden.

Das Sexuelle ist immer sowohl privat als auch politisch. Wenn wir über sexuelle Dienstleistung, Schwangerschaftsabbrüche, Empfängnisverhütung, gleichgeschlechtliche Ehen und so weiter reden, können wir nicht anders, als politische Aussagen zu machen. Umgekehrt ist ein objektives Nachdenken über solche Themen nachgerade unmöglich, weil unsere persönliche Erfahrung sowie unsere individuellen Wertvorstellungen notwendigerweise unsere Perspektive prägen.

Erfreulicherweise werden sexuelle Subkulturen immer bekannter und beliebter. Erfreulicherweise deshalb, weil sie auf Vielfalt, Spielspaß, Integrität, Respekt, Kommunikation und sexuelle Bildung großen Wert legen und in dieser Hinsicht wegweisend sind.
Mit Subkulturen meine ich Strömungen “unterhalb ” (das heißt weitgehend unsichtbar für die) “Mainstream-Kultur, in der mit Sexualität anders umgegangen wird. Dazu gehören kleine Veranstaltungen wie Polyamorie- und BDSM-Stammtische; Großveranstaltungen wie die überregionalen Treffen des polyamoren Netzwerks e.V. und die Xplore; private oder halböffentliche sinnliche Abendveranstaltungen oder mehrtägige Zusammenkünfte; Jahrestrainings; Tantra-Massage-Ausbildungen; und eine unüberschaubare Anzahl an Workshops und Seminaren; Literatur und Filmen.

Die explizit sinnlichen Veranstaltungen (“sex-positive spaces”) der Subkulturen unterscheiden sich vom Swingerclub, dem Bordell und dem privaten Schlafzimmer mehrheitlich dadurch, dass sexuelle Handlungen willkommen, jedoch nicht der einzige Zweck der Zusammenkunft sind. Insofern sind sie erwartungsfreier und ergebnisoffener. Auch kultivieren sie Formen von Sexualität, die nicht dem heterosexuellen Standard-Skript (Erektion/Lubrikation, Penis-in-Vagina-Penetration – Orgasmus/Ejakulation) folgen. Des Weiteren versuchen sie ausdrücklich – anders als “konventionelle” sex-positive Räume – die gesellschaftliche Haltung zu Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Sexualitäten und Vergnügen zum Positiven zu verändern und haben insofern experimentellen Charakter. Experimentell sind sie auch, weil die Ergebnisoffenheit große Gestaltungsfreiheit für alle Beteiligten eröffnet. Verwirrende, riskante und/oder schmerzhafte Situationen sind in dieser Freiheit unvermeidbar. Sichere experimentelle sinnliche Räume zu erschaffen, ist aufwändig und anspruchsvoll, führt aber zur Kultivierung zahlreicher Fähigkeiten und Fertigkeiten die für jede sexuelle Interaktion, ja, fürs ganze Leben nützlich sind: Verantwortung, Mitgefühl, gemeinsames Lernen und Ausprobieren, wertschätzende und präzise Kommunikation über Wünsche und Grenzen, Umgang mit Gefühlen und nicht zuletzt: Humor.

Auch entwickelt sich ein neues Berufsbild: Sexuelle Dienstleistungen, die Selbsterfahrung und Genuss mit Coaching, Beratung und Therapie verbinden.

Ob wir so irgendwann wahre sexuelle Freiheit erlangen, wage ich zu bezweifeln. Der freie Wille wird angesichts biologischer und kultureller Prägungen (die uns zum großen Teil nicht bewusst sind) meines Erachtens nach überschätzt. Was wir aber erlangen können, ist Autonomie.

Wenn wir unseren Körper und unseren Geist bemühen, um uns in wahrhaftigen Empfinden, kritischem Hinterfragen und Selbstreflexion zu üben, eröffnen sich mehr und mehr Möglichkeiten, selbstbestimmt und integer zu entscheiden, wie wir leben möchten und was wir für erstrebenswert erachten. Zusätzlich braucht es den Mut und die Willensstärke, jenen Entscheidungen Taten folgen zu lassen, die sich nicht an dem orientieren, was als “normal” gilt oder was vermeintlich alle anderen tun.
Das bezieht sich auf das individuelle Leben und auch auf das Zusammenleben und gemeinsame Glücklichsein. Nicht nur sexuell.


Quellen und Weiterführendes:

Verena Triesethau – Am fremden Leib erfahren

Volkmar Sigusch – Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik

Michel Foucault – Sexualität und Wahrheit

Julio Lambing – Der blutige Kuss der Göttin. Die Bedeutung einiger sexueller Rituale im Tantra und Neo-Tantra

Wendy Doniger – Kamasutra

Anna Mense – Finding your Way around: Sex-positive Spaces (unveröffentlichtes Manuskript)

Moritz Dittmeyer – Der programmierte Mensch: Smarte Anwendungen, Gamification und die Beeinträchtigung menschlicher Autonomie. Ein Appell

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