Sexuelle Kultur am Anfang – oder am Ende? (Gastbeitrag auf praefaktisch.de)

Das junge Philosophie-Blog Praefaktisch nimmt sich – mutig! – der Sexualität an. Spannende Texte, von denen meiner einer sein darf…

Vielleicht hat sich die westeuropäische Philosophie einer Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität aus guten Gründen größtenteils enthalten: Ihr Wesen ist schwer zu erfassen, der Versuch einer Definition daher beinah aussichtslos. Es ist zu bezweifeln, dass es möglich ist, sich ihr von einem objektiven und sachlichen Standpunkt aus zu nähern. Selbst wenn dies gelänge, würden Leser*innen vermutlich trotzdem auf den Menschen hinter dem Text schließen – das wünscht sich wohl niemand, schon gar nicht in einer philosophischen Tradition, die die Person der Philosoph*in und deren subjektive Erfahrung weitestgehend auszuklammern versucht. Nicht zuletzt wurde in der menschlichen Sexualität immer schon eine diffuse Gefahr vermutet. Wo kämen wir hin, wenn hemmungs- und schamlos über sie gesprochen würde? Wo kämen wir hin, wenn Menschen sie gleichberechtigt und frei ausleben könnten?

Diese Enthaltsamkeit hat ihren Preis. Wo sind wir hingekommen in einer Gesellschaft, in der der Sex angeblich „befreit“ ist, wo es jedoch keine breite und öffentliche Auseinandersetzung darüber gibt, wie eine für alle Beteiligten bekömmliche Sexualität eigentlich aussieht und was sie für ein gutes Leben bedeutet? Was Sexualität angeht, leben wir in einer der liberalsten Gesellschaften weltweit, die dennoch an einem positiven und angemessenen Umgang mit diesem Thema weitgehend scheitert. Mit einem neuen Prostitutionsgesetz soll das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung nun wieder empfindlich eingeschränkt werden. Damit würde voraussichtlich ein großer Teil der sex-positiven[1] Angebote verschwinden. Und das ist vielleicht erst der Anfang …

Die sexuelle „Befreiung“ des letzten Jahrhunderts hat viel Gutes bewirkt, doch es darf bezweifelt werden, ob sie unser sexuelles Wohlbefinden wirklich wesentlich gesteigert hat. Sexualität wird heute derartig fetischisiert, dass man meinen könnte, es gebe kaum Wichtigeres im Leben (das zeigt sich in Zeitschriften, Büchern, Serien, in der Werbung, im Internet, angesichts frühzeitigen Pornokonsums und zahllosen Dating-Apps). Unser Sex ist keine bloße Aktivität mehr, sondern untrennbar verwoben mit unserer Person, unserer Identität und unserem Selbstwert.

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