Eva Hanson

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Bitte nicht schon wieder Sex!

Mein Teuerster und ich sitzen beim ersten Kaffee und der zweiten Zigarette am offenen Küchenfenster und sprechen über das Verhältnis von Sperma und Gravitation. Draußen scheint friedlich die Herbstsonne und von unten säuselt der vertraute Kuschelrock-Soundtrack unserer jungen Nachbarin zu uns herauf. Ein ganz normaler Morgen also.

Willkommen in meinem Leben.

Ich hatte schon viel Sperma in den Händen: Rein beruflich müssten es an die tausend verschiedene Spermata gewesen sein, alle mit unterschiedlichem Gravitationsverhalten. Wenn ich richtig gerechnet habe, macht das schätzungsweise 4 Liter und ungefähr 160000000000 Spermien insgesamt. Das will der Teuerste dann aber doch nicht so genau wissen.

Seit über zehn Jahren beschäftige ich mich hauptsächlich mit Sex – erst als Hobby, dann als Beruf (und Hobby). Theorie und Praxis wechseln sich dabei ab, gehen ineinander über, befruchten sich gegenseitig. Es wird einfach nicht langweilig.

Manchmal nervt es aber auch. Also nicht das Sperma an sich – Sperma macht Spaß. Nein, das Umzingeltsein vom Sex. Einmal den Blick darauf scharfgestellt, hat so gut wie alles irgendwie mit Sex zu tun. You cannot un-see it. Die aktuelle Beweislage deutet darauf hin, dass wir es weder mit einer Nebensache zu tun haben, noch mit der schönsten – jedenfalls scheint Sex unser Leben nur im Glücksfall signifikant schöner zu machen. Meistens eher kompliziert und anstrengend. Es kostet Zeit, Kraft, Nerven und Geld.

Wir sind die Säugetiere mit dem kompliziertesten Sexualverhalten. Allein schon die Tatsache, dass wir ganzjährig geil sind, Sex zum Zwecke des Vergnügens und außerdem die Scham, die Schuld, die Einvernehmlichkeit und die Privatsphäre erfunden haben, macht das mit der Vögelei ganz schön aufwendig. Manche glauben, dass die dadurch hervorgebrachte Komplexität erheblich zu unserem evolutionären Aufstieg zu intelligenten, sprachbegabten, aufrecht gehenden Wesen beigetragen hat. Aber jetzt sind wir ja schon lange an der Spitze angekommen, also:

Warum lassen wir es nicht einfach?


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Hin und wieder hat es mir tatsächlich einfach gereicht. Ich legte längere Pausen ein, in Theorie und Praxis, und beschäftigte mich mit Themen, die möglichst keinen Bezug zu Sex haben (Philosophie ist da relativ safe – erstaunlich, wie wenig Bezüge die großen Denker*innen der Welt zu Körpern herstellen).

Das konnte ich mir allerdings nur leisten, weil ich satt war. Sattgefickt. Sattgeliebt. Sattgespielt. Meine Abstinenz war lustvoll, weil ich wusste wie es sich anfühlt, wenn man sexuell so wohlgenährt ist, dass man mehr gar nicht ertragen könnte. Ich fragte mich, wie viele wohl jemals in den Genuss dieses Gefühls kommen. Die meisten Menschen scheinen leider eher auf der einen oder anderen Art sexueller Diät zu sein, was sehr schade ist.

Ja, genau: Ich vergleiche das Bedürfnis nach Sex mit dem Bedürfnis nach Essen. Er hat dieselbe Relevanz und Dringlichkeit. Die Macht der Hormone ist nicht zu unterschätzen: Unsere Hoden und Eierstöcke legen uns permanent nahe zu kopulieren, auch wenn wir gelernt haben, unseren Trieb nicht ständig in unser Bewusstsein vorzulassen. Dennoch können Testosteron und Östrogen, insbesondere in Kombination mit Dopamin, Oxytocin und Endorphinen, unseren Intelligenzquotienten temporär erheblich senken. Die Natur hat das ganz gerissen eingerichtet – denn sonst gäbe es uns alle ja nicht.

Wir sind Getriebene, alle miteinander. Getrieben von Sehnsucht. Auch wenn es uns angeblich geistig erhabenen Wesen noch so peinlich sein mag.

Na schönen Dank auch, Evolution.

Nun bestehen Menschentiere aus mehr als nur Sexualhormonen. So wie die meisten in unserer Kultur ein entspanntes Verhältnis zum Essen haben, wiewohl dessen Unterlassung ja relativ schnell zum Tod führt, kann es gelingen ein solches auch zum Sex zu entwickeln. Der Trick ist, zum Gourmet zu werden.

Wie geht das also mit der sexuellen Sättigung? Ich behaupte: Man braucht weder viel Sex noch Sex mit vielen, sondern richtig guten Sex. Was „richtig gut“ ist, ist natürlich vom individuellen Geschmack abhängig. Aber im Prinzip braucht man einfach dieselben Zutaten wie bei richtig gutem Kochen und Essen: Zeit (viel davon). Entspannung. Geduld. Experimentierfreude. Verlässliche Informationsquellen. Ausgewählte Zutaten von hoher Qualität. Gute Gesellschaft (es geht aber auch alleine). Abwechslung. Übung.

Wie wäre es, wenn du dir für dein nächstes erotisches Erlebnis einfach mal ein Zeitfenster von drei bis vier Stunden setzt (für den Anfang...)? Die gilt es dann zu füllen – mit Neugierde, Kreativität, Aufmerksamkeit und Zuneigung. Keine Sorge: Dir wird schon was einfallen.
Das größere Hindernis wird allerdings eher ein Mangel an Entspannung und Muße sein, nicht wahr?

Wäre das nicht mal ein radikaler, wahrhaft sex-positiver Umgang mit den Lüsten und unserer Sehnsucht nacheinander? Unsere Kultur so umzubauen, dass sie eine erfüllende Sexualität fördert und nicht behindert?

Die von mir hochgradig verehrte Hure Salomé Balthus wurde kürzlich bei „F.A.Z. Junge Köpfe“ gefragt, wie denn ihrer Meinung nach eine gute erotische Kultur möglich wäre. Ihre Antwort: Geringer ökonomischer Druck (der Entspannung wegen), gleiche sexuelle Bildung für alle Geschlechter und sehr viel Freizeit, damit man nicht etwa das Wichsen unterbrechen müsste, weil man zur Arbeit muss.
Es ist also eigentlich ganz einfach – am besten fangen wir gleich damit an.

„Und jetzt?“, fragt der Mann an meinem Küchentisch, nachdem wir das Sperma-Thema erschöpfend erörtert haben. „Hmm.. Frühstück, Vögeln, Siesta?“, schlage ich vor. „Deal.“

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