Jenseits der romantischen Verpaarung
Nachdem mein Experiment „romantische Beziehung“ beendet ist, hat sich mein Leben grundlegend gewandelt. Man würde mich nun wohl als „Single“, beziehungsweise „solo-polyamor“ bezeichnen.
Ich habe jedoch kein Bedürfnis, mich in irgendeine Schublade einzuordnen oder mich mit meinem Liebesleben zu identifizieren. Ganz im Gegenteil, würde ich es fast schon als Beleidigung empfinden, für „single“ oder „solo“ erklärt zu werden, weil das meine Identität auf romantische Bindung, beziehungsweise deren Nichtvorhandensein reduziert.
Ich lebe, ich liebe, ich habe Sex. Konventionelle Konzepte wie „Beziehung“, „Liebe“, „Freundschaft“, „Familie“ machen in meinem Leben keinen Sinn mehr, müssten neu definitiert oder neue Konzepte erfunden werden. War meine Ehe nach gängigen Vorstellungen schon unkonventionell, fällt mein Leben jetzt erst recht aus dem herkömmlichen Rahmen.
Die „romantische Liebesbeziehung“ ist normativ
Professor Elizabeth Brake definiert „Amatonormativität“ folgendermaßen: "die Annahme, eine zentrale, exklusive, amoröse Beziehung sei das universelle Ziel aller Menschen, und eine solche Beziehung ist normativ in dem Sinne, dass sie gegenüber anderen Beziehungen bevorzugt angestrebt werden sollte."
Diese Norm wird heutzutage vielfach hinterfragt. Kaum jemand macht sich mehr ernsthaft die Illusion einer lebenslangen Bindung. Vielfach wird die Exklusivität, insbesondere die sexuelle, aufgeweicht, zum Beispiel in der Polyamorie. Beziehungsanarchist*innen verweigern sich ausdrücklich dem heteronormativen Entwicklungsverlauf („Beziehungsfahrstuhl“), der den Ablauf von Beziehungen vorgibt: verlieben – zusammen wohnen – heiraten – Kinder haben – die meisten anderen Beziehungen aufgeben und Unterstützung und Fürsorge nur noch aus der eigenen Familie beziehen.
Doch was ist mit Menschen, die nicht mit einem oder mehreren Menschen romantisch verschmelzen und ihr Leben verflechten wollen? Was ist mit Menschen, die rein sexuelle Beziehungen bevorzugen? Oder denen, die mehr Wert auf Familie und Freundschaft legen als auf romantische Verbindungen? Die das gemeinsame Wohnen und Kinderaufziehen lieber mit Freund*innen oder Familie oder auch gar nicht verwirklichen wollen? Sie sind mehr oder weniger unsichtbar und haben es offenbar schwer, ein zufriedenstellendes Leben zu gestalten.
„Alleinstehende“ Menschen werden oftmals stigmatisiert, diskriminiert und sogar verteufelt. Nicht nur gelten sie als narzisstisch, unreif und egoistisch, es wird auch gern behauptet, sie seien verantwortlich für soziale Probleme wie „Vereinsamung“, oder für einen angeblichen Niedergang der „familiären Werte“, weil die steigende Zahl der Singles als Gefahr für das Wohl und das moralische Gefüge der Gesellschaft gesehen wird.
Die romantische Paarbeziehung wird von vielen als das Fundament einer „anständigen“ und „guten“ Gesellschaft gesehen und untrennbar verknüpft mit dem Wohl der Nation und sogar der Welt. „By prioritizing coupled relationships above all others we are left with a narrow and limited understanding of intimate life, of belonging, of care, of home.“ Stellt Eleanor Wilkinson fest.
Obwohl die Zahl der Menschen steigt, die nicht heiraten oder nicht einmal in romantischen Paarungen leben wollen, scheint kaum jemand die Idee zu hinterfragen, dass Menschen sich eigentlich in romantischen Beziehungen binden wollen beziehungsweise binden sollten. Viele Menschen, die nicht in monogamen Verbindungen leben wollen, erweitern lediglich das romantische Konzept des Paars, um mehr Menschen integrieren zu können.
Wieso ist das so?
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Ersatzbefriedigung
Hartmut Rosa beschreibt eindrücklich, dass unsere romantische Partnerschaft beziehungsweise Ehe als deren institutionalisierte Form oftmals unser einziger „Resonanzhafen“ in einer trostlosen und feindlichen, von Konkurrenzdenken und Sinnlosigkeit geprägten Welt ist. Sie bietet einen „Anker für Empathie, Hingabe, Zuwendung, Sinn, Bedeutung“.
Wenige Menschen empfinden Erfüllung und positive Selbstwirksamkeit in ihrem Beruf oder Verbindung mit etwas Höherem in ihrem Glauben. Kein Wunder, dass wir von der romantischen Beziehung wie besessen sind, als sei sie unsere neue Religion. In den Medien geht es um kaum etwas anderes und die meisten Menschen scheinen in ihrer Freizeit hauptsächlich damit beschäftigt zu sein, eine solche entweder zu finden oder zu erhalten.
Wir haben flexibel und mobil zu sein, sodass es schwer ist, sich in einer Form von Gemeinschaft – sei es Freundeskreis, Vereine oder Wohngemeinschaften – zu verwurzeln. Es ist jedoch legitim, sein Leben nach der romantischen Partnerschaft auszurichten. Und so wird der Mensch, für den wir einst in Leidenschaft entbrannten, zu unserer Haupt- wenn nicht einzigen Bezugsperson und soll alle zwischenmenschlichen Bedürfnisse zugleich erfüllen.
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Mehrfachbeziehungen sind nicht subversiv genug
Wieso bekommen „deviante“ Beziehungsformen nicht dieselbe soziale Anerkennung und Unterstützung wie die „klassische“ Paarbeziehung? Warum wird das potenziell gefährlichste Modell, wo wir unsere Finanzen, Lebenssituation, Sinnlichkeit, Sexualität, Hingabe, unseren Geist einem einzigen romantischen Partner „schulden“, als einzig richtige Form der Bindung und Familie angesehen? Und als der einzige Weg, ein stabiles, bedeutungsvolles Leben zu führen?
Die moderne, westliche Gesellschaft toleriert augenscheinlich eine Vielfalt an sexuellen Identitäten und Begehrensobjekten, doch hinsichtlich der Erwartung paarförmiger Bindung scheint sie einförmiger und monomanischer zu sein als jede andere Kultur („compulsory coupledom“).
Schaut man genau hin, unterstützt die gängige Definition und Repräsentation von Polyamorie bestimmte sexuelle Normen. Indem sie augenscheinlich den Beziehungen den höchsten Wert beimisst, die dauerhaft, bedeutungsvoll, romantisch und sexuell sind und auf Liebe, Ehrlichkeit, Verständnis und Vertrauen aufgebaut sind, spiegelt und pflegt sie althergebrachte Beziehungs/Liebesnormen.
Menschen, die nicht wenigstens in einer paarförmigen Beziehung dauerhaft gebunden sind, erscheinen nicht einfach als anders, sondern gewöhnlich als defizitär, einsam, traurig, verzweifelt auf der Suche. Der Eindruck von Entbehrung könnte daher stammen, dass partnerlose Menschen der Möglichkeit beraubt scheinen, Resonanzbeziehungen einzugehen.
Eleanor Wilkinson fragt sich: Verhindert unser Fokus auf die romantische Liebe, dass wir uns andere Arten von bedeutungsvollen und verbindlichen Beziehungen (familiäre Liebe, freundschaftliche/platonische Liebe, Nachbarn, Gemeinschaften) vorstellen und kreieren können?
Was, wenn wir die derzeitige Gesellschaft und die Ordnung der Dinge nicht erhalten wollen würden? Die Dekonstruktion der Mononormativität, Heteronormativität und Amatonormativität macht uns frei, uns neue Wege des Lebens und Liebens, von Gemeinschaft, Gesellschaft und dem guten Leben vorzustellen.
So entsteht Raum, um über neue Wege nachzudenken, unsere Beziehungsbedürfnisse zu erfüllen. Darüber, was Bindung, Verbindlichkeit, Fürsorge uns bedeuten. Wie wir alltägliche Intimität organisieren wollen. Welche Rolle Begehren und Sexualität in unserem Leben und Beziehungen hat.
Doch Nachdenken reicht meines Erachtens nicht. Es braucht Erfahrungsräume, in denen wir unsere Vorstellungen und Wünsche ausprobieren können. Durch die Veränderung seiner praktischen Handlungskontexte und seiner institutionellen Einbindungen transformiert sich die Qualität der Weltbeziehung eines Menschen.
Die Form unserer Weltbezogenheit wird wesentlich geformt und geprägt in unseren soziokulturellen Resonanzverhältnissen, die wiederum von der gesellschaftlichen Formation bestimmt werden, in der wir leben. Wir brauchen also Gruppen, Netzwerke, Gemeinschaften, um nonkonforme Beziehungsweisen auszuprobieren und zu etablieren.
Wir brauchen Räume – ganz konkret. Moderne Architektur orientiert sich weitgehend an Paaren und Kernfamilien. Sie symbolisieren sowohl die Privatisierung des Familienlebens als auch die Sexualisierung der Familieneinheit. Wohnraum für Haushalte mit mehreren Erwachsenen oder mehreren Familien existiert praktisch nicht. Was passiert, wenn wir uns nicht zur romantischen Paarbeziehung hin orientieren? Wie würde das das Bewohnen und Erschaffen von Räumen beeinflussen?
Und wir brauchen Menschen, die öffentlich sichtbar werden und über die Vorzüge eines freiwillig gewählten autonomen Lebens (um das Wort „Single“ zu vermeiden – eine neue Sprache wäre ebenfalls wünschenswert) sprechen. Darüber, dass „solo“ nicht immer eine „Phase“ ist, sondern ein immer beliebterer, selbst gewählter und dauerhafter Lebensmodus und/oder sexuelle Identität. Wie sie Netzwerke von Freundschaft, Intimität und Fürsorge kreieren, die den Status des heteronormativen Modells infrage stellen.
Ich lebe, arbeite und wirke in einem Projekt und weitläufigem Netzwerk von Subversiven, Devianten und Lebensstil-Avantgardisten. Die sogenannte romantische Liebesbeziehung in ihrer herkömmlichen Gestalt spielt hier keine besonders große Rolle, Sexualität hingegen schon. Sie ist Selbstausdruck, sozialer Klebstoff, Kunst und vieles mehr. Wir teilen unter anderem Leben, Gefühle, Geld, Gegenstände, Ziele, Ansichten, Freunde, Liebhaber, sinnliche Begegnungen, Wissen, Erfahrung und Werte.
Teilweise leben wir zusammen. Viele Gemeinschaften orientieren sich an dem Prinzip der “Wahlverwandtschaft”. Wir orientieren uns eher an dem Schlüsselwort “Freundschaft”: Wohlwollen, nachbarschaftliche Solidarität, Sorge umeinander, Freiheit. Es gibt keine festgeschriebenen Regeln oder Strukturen, dafür große Verbindlichkeit und hohe Ansprüche an uns selbst, aneinander und unser gemeinsames Wirken.
Es geht um nichts weniger als ein gelingendes und gutes Leben für uns und „our kind“. Wir möchten dazu beitragen, alternative Lebensform für Menschen zu entwickeln, die sich als Träger und Mitglieder der Industriegesellschaft verstehen, diese mitgestalten und weiterentwickeln wollen.
Inspiriert durch
Eleanor Wilkinson - Single people’s geographies of home: Intimacy and friendship beyond ‘the family’
Eleanor Wilkinson - Equalise Love! Intimate Citizenship Beyond Marriage
Robert Lehmann
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