Eva Hanson

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#4 Die wahren Wurzeln des Neo-Tantra

Spirituelle Praxis oder Psychotherapie mit Räucherstäbchen?

Das Hautrausch-Kapitel über die Entwicklung des Neo-Tantra habe ich inzwischen dreimal umgeschrieben. Es gibt einfach so viele faszinierende Aspekte, die in diese Bewegung hineinfließen.

Anfangs interessierte mich vor allem, wie die Proto-Hippies um die Jahrhundertwende lebten und welche Einflüsse in den 1970er Jahren schließlich die New-Age-Bewegung formten. Dann tauchte ich tief in die Geschichte der Bhagwan/Osho-Bewegung ein, und schließlich fand ich ein Buch über den Zeitgeist der 70er Jahre, das mir vieles klarer machte – vor allem, wie all diese Entwicklungen die heutige Tantra-Massage beeinflusst haben.

Dass Neo-Tantra, wie wir es heute kennen, nur noch entfernt mit dem tantrischen Original aus Indien zu tun hat, wissen mittlerweile die meisten. Weniger bekannt ist jedoch, aus welchen Komponenten Neo-Tantra eigentlich zusammengesetzt ist. Tatsächlich ist es ein Mix aus verschiedenen Lehren, Traditionen, Techniken und therapeutischen Ansätzen, also weniger ein Export östlicher Spiritualität als vielmehr ein Produkt des westlichen Psychobooms der 60er und 70er Jahre.

Indien: Der Nerv der Zeit

In den 60er Jahren macht sich ein ehemaliger Philosophie-Professor daran, den spirituellen Markt (neu) zu erfinden. Sein Rezept? Ein bisschen östliche Spiritualität und ganz viel westliche Psychologie, garniert mit einem Hauch von New-Age-Energie. Das Ergebnis? Neo-Tantra.

Geboren 1931 als Chandra Mohan Jain, später unter anderem bekannt als Bhagwan Shree Rajneesh, gründete 1970 die Neo-Sannyas oder Bhagwan-Bewegung. Er war es hauptsächlich, der Tantra zur Ware machte und gewinnbringend an den Westen verkaufte – wobei, das stimmt nicht ganz: Osho hatte von Tantra augenscheinlich weit weniger Ahnung als vom Zeitgeist der sexuellen Revolution und von den Sehnsüchten seiner Zielgruppe – den Hippies der westlichen gebildeten Mittelklasse.

So hatte er scharfsinnig erkannt, dass die westliche Welt in den 70ern hungrig war nach Spiritualität – aber ohne Zölibat und Meditationsmarathon, bitte. So bot er zwar "Erleuchtung" an, aber mit einem Twist: Statt auf asketische Entsagung setzte er auf "freie Liebe" und therapeutisches Selbsterforschen.

In seinem Ashram in der Kleinstadt Poona bei Bombay lehrte er eine unkonventionelle Mischung aus westlicher Philosophie, hinduistischer Spiritualität und tantrischen Weisheiten.

Mit seinen öffentlichen Auftritten hatte er schon in den 60er Jahren in Indien Furore gemacht und konservative Hindu-Gelehrte gegen sich aufgebracht. In der indischen Presse war er bald der "Sex-Guru". Nichtsdestotrotz (oder gerade deswegen) zog sein sorgfältig inszeniertes Guru-Charisma, sein Humor und seine unkonventionellen Ansichten schnell Tausende von jungen Erwachsenen an, die zu seinen treu ergebenen Anhänger*innen wurden - Neo-Sannyas oder Sannyasins.

Oshos Botschaft? Jeder Mensch ist göttlich und sollte das Leben voll und ganz genießen. Er forderte seine Anhängerinnen auf, sich von Dogmen zu befreien und die eigene, individuelle Spiritualität zu leben. Tatsächlich war seine Lehre weniger exotisch und fernöstlich als seine Anhängerinnen glaubten. Sie spiegelte vielmehr den westlichen New-Age-Geist und die Sehnsucht nach freier Selbstentfaltung wider.

Osho war außerdem ein großer Freund der freien Liebe. Staatliche oder religiöse Einmischung in private Beziehungen lehnte er ab. Entsprechend ermutigte er seine Gefolgschaft, ihre sexuellen Begehrlichkeiten anzunehmen und frei zu experimentieren – als wesentlicher Bestandteil spirituellen Wachstums. Er glaubte, dass die meisten psychischen und sozialen Probleme darauf zurückzuführen seien, dass ihre sexuelle Energie unterdrückt werde – eine Idee, die er ganz klar vom einem österreichischen Psychoanalytiker übernommen hatte.

Österreich: Der vergessene Vordenker

Eine der wichtigsten Grundlagen für Neo-Tantra wurde bereits in den 1920er Jahren gelegt – interessanterweise nicht in Indien, sondern in Wien, wo Wilhelm Reich einige revolutionäre Theorien entwickelte und darüber mit seinem Lehrer Sigmund Freud in einen erbitterten Streit geriet, an dessen Ende er aus der psychoanalytischen Vereinigung geworfen wurde.

Im Gegensatz zu Freud wollte Reich nicht daran glauben, die "Masse" sei faul, aggressiv, dumm und triebgesteuert und müsse folgerichtig von "oben" gesteuert und kontrolliert werden.

Seine Überzeugungen:

  • Der Mensch ist von Grund auf gut

  • Eine unterdrückte Sexualität hemmt die persönliche und kulturelle Entfaltung

  • dient dazu, autoritäre Strukturen zu erhalten

  • ist die Ursache der meisten psychischen Erkrankungen

Diese Ideen, wurden Jahrzehnte später zu Grundpfeilern der humanistischen Psychologie – und damit auch des Neo-Tantra.

Außerdem wurde Wilhelm Reich damit lange nach seinem Tod 1957 zum Superstar der sexuellen Revolution. Inspiriert durch seine Ideen verbreiteten sich folgende Überzeugungen:

  • Sexuelles Glück und Authentizität hängen wesentlich zusammen

  • In unserer Kultur ist die Sexualität jahrtausendelang unterdrückt worden

  • Wenn die Menschen nur einen echten, einen vollen Orgasmus hätten, würden wir harmonisch und in Frieden in einer egalitären Gesellschaft miteinander leben

  • Deshalb brauchen wir jetzt Hilfe aus anderen Kulturen – wie zum Beispiel Tantra

Indien: Schmelztiegel Poona

So ist es wenig überraschend, dass in Oshos Ashram durch die Kombination östlicher und westlicher Therapietechniken zahlreiche neue Formate erfunden wurden, die "Tantra", "Encounter" oder "Enlightenment Intensive" hießen und zu einer steten Einnahmequelle für das kommerziell ausgerichtete Ashram wurden.

Die mehrtägigen Kurse, die bald in den auf allen Kontinenten entstehenden Filial-Ashrams (den "Rahneesh Meditation Centers") angeboten wurden, waren im Grunde körpertherapeutische Sitzungen, die ihre Wurzeln weniger im Hinduismus als in der westlichen Psychologie hatten.

Hier vereinten sich:

  • Gestalttherapie

  • Bioenergetik

  • Körperpsychotherapie

  • Atemarbeit

  • Meditation

  • Gruppendynamik

  • Begegnungsarbeit

  • Freie Liebe

  • und noch so einiges mehr

in Formaten, die gezielt auf den westlichen Bedarf nach Selbsterfahrung und persönlichem Wachstum abgestimmt waren. Kurzum: Tantrische Workshops wurden zu einem lukrativen Geschäft, das den psychologischen Bedürfnissen der 70er Jahre entsprach und bis heute seine Fans hat.

Der Transfer westlicher Ideen ins indische Ashram wurde durch den Psychologen Richard Price ermöglicht, der 1962 das kalifornische Esalen Institut mitbegründet hatte.

Kalifornien: Geburt einer neuen Psychologie

Esalen war so etwas wie der "amerikanische Ashram" der 60er und 70er Jahre, ein Zentrum für Humanistische Psychologie, New-Age-Spiritualität und alternative Heilmethoden. Hier trafen sich führende Köpfe der neuen therapeutischen Ansätze, die sich bewusst von Freud'scher Analyse und Behaviorismus abgrenzten. Stattdessen stand das persönliche Wachstum im Fokus – mit dem Ziel, den Menschen ganzheitlich zu betrachten und zu fördern.

Dieser therapeutische Ansatz verbreitete sich schnell über die USA und schließlich über den gesamten Westen. Zahlreiche "Growth Centers" und Workshops entstanden, in denen es darum ging, das volle Potenzial jedes Menschen zu entfalten. Die von Esalen ausgehende, Human-Potential-Bewegung verschmolz bald mit der New-Age-Spiritualität zu einer transpersonalen, esoterischen Psychologie, die die persönliche Selbstverwirklichung um eine übergeordnete, spirituelle Perspektive erweiterte.

Mehr West als Ost

Die Psychologisierung der Gesellschaft war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Ein ganzer Wirtschaftszweig entstand um das Konzept des "Wachstums", in dem Coaches und Therapeut*innen dafür bezahlt werden, Räume zu schaffen, in denen Menschen ihre Gefühle erforschen und ausdrücken können.

Ziel: Das Schaffen von unabhängigen, freien Individuen, die

  • ihre ganz eigenen Erfahrungen machen

  • ihr je eigenes Potenzial entfalten und

  • in einer ganz individuellen Weise Leben

Selbstentwicklung wurde vielen zum Religionsersatz und zahllose Menschen, die sich bis jetzt nicht als therapiebedürftig eingeschätzt hätten, begannen nun, ihrem persönlichen "Wachstum" und ihren Gefühlen gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken.

Bis heute ist Neo-Tantra eine Art spirituelle Selbsterfahrung, die auf humanistischen und körpertherapeutischen Methoden basiert. Die tantrischen Workshops kombinieren Atemarbeit, Meditation und Körperübungen mit therapeutischen Gesprächen und dynamischer Gruppenarbeit. Es ist eine Praxis, die gleichermaßen Therapie wie Intimitätsschule sein will – und die sich daran orientiert, Menschen "lebensbejahend, beziehungs- und liebesfähig" zu machen, indem sie unter ihrer Erziehung und Konditionierung ihre wahre Identität wieder freilegen.

Neo-Tantra ist also weniger ein "verwestlichtes" Tantra als ein durch und durch westliches Phänomen: Die Antwort auf die Sehnsüchte der modernen Gesellschaft nach

  • Freiheit

  • Verbindung

  • Lebenslust

  • Sinn und

  • Wahrhaftigkeit

Ein Mix aus "Seele zeigen" und "Körper spüren" also – mit etwas östlich-exotisch-mystischem Flair.

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