Auf dem Grunde des Stigmas – Das Problem mit der Sexarbeit
Käuflicher Sex ist eine Dienstleistung, die in allen gesellschaftlichen Gruppen und Einkommensklassen nachgefragt wird, mehrheitlich von Männern. In den meisten Ländern ist sie dennoch (oder deswegen?) teilweise oder komplett illegal. Deutschland ist eines der ganz wenigen Länder, wo Sexarbeit seit Langem legal ist. Seit 2002 gilt sie ebenfalls nicht mehr als „sittenwidrig“.
Mit der Diskussion um das neue Prostituiertenschutzgesetz, das vorgeblich die Situation der Sexarbeiterinnen* verbessern soll, drang das Thema wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Diese Debatten finde ich häufig frauenfeindlich und entmündigend, schlimmer noch: Meistens wird über oder für die Sexarbeiterinnen gesprochen, selten mit ihnen. Dem BesD (Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V.) zufolge ist das Gesetz nicht nur kontraproduktiv, sondern auch unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. „Wenn wir als Sexarbeiter_innen 'Schutz' brauchen, dann vor allem den vor gesellschaftlicher Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung.“ heißt es in einer Stellungnahme des Verbandes zum neuen Prostituiertenschutzgesetz.
Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie an der Universtität Halle, stellt in seinem Gutachten zum Prostitutionsgesetz von 2002 fest: „Sexuelle Selbstbestimmung bedeutet, dass man frei über das 'Ob', das 'Wann' und das 'Wie' einer sexuellen Begegnung entscheiden kann. Bei der selbstbestimmten Ausübung der Prostitution liegen diese Merkmale vor.”
Ich frage mich, wieso in unserer aufgeklärten und vermeintlich freien Gesellschaft eine bestimmte Form der Auslebung von Sexualität tabuisiert, abgewertet und sogar kriminalisiert wird**, obwohl sie vom Gesetz her weder illegal noch „sittenwidrig“ ist. Auch frage ich mich, wieso es notwendig ist, für einen vollkommen legalen Wirtschaftszweig besondere Gesetze und Regelungen zu erlassen. Die Freiheit, der Prostitution nachzugehen, ist offenbar nicht so fundamental, als dass sie nicht um eines höherwertigen Interesses willen eingeschränkt werden könne.
Ich versuche hier, den Stand meiner Erkenntnisse zusammenzufassen und zu kommentieren. Was wiederum immer noch mehr Fragen aufwirft. Für Ergänzungen, Antworten oder Hinweise bin ich daher sehr dankbar.
Der kanadische Soziologe Erving Goffman definierte Stigma als eine tief diskreditierende Eigenschaft, die das Individuum von einer vollständigen, gewöhnlichen Person zu einer verdorbenen und abgewerteten reduziert. Menschen tendieren dazu, andere für bestimmte Eigenschaften oder Tätigkeiten zu verurteilen, die als sozial oder kulturell anrüchig angesehen werden. Stigma steht oft in Verbindung mit sozialen Ängsten und dem Bedürfnis, soziale Kontrolle und Ordnung aufrechtzuerhalten.
Sexarbeiterinnen erleben tagtäglich, wie diese Diskriminierung ihnen Zugang zu wichtigen sozialen Ressourcen wie Geld, Macht, Prestige und sozialen Institutionen (Krankenversicherung und Krankenversorgung, Arbeitsplätze, Bildung) negativ beeinflusst, was es wiederum schwierig macht, dem Stigma entgegenzuwirken.
Desweiteren führt es dazu, dass die betroffenen Personen weniger Schutz und Hilfe suchen und sich stattdessen auf kriminelle Strukturen verlassen müssen. Oft wenden sie sich Drogen zu, um mit Gefühlen der Scham und Schande umzugehen, die ihnen entgegenschlägt.
Deviante Sexualitäten
Sexualität ist in der christlich-abendländischen Kultur traditionell überreguliert. Es mag sich oft so anfühlen, als seien wir in einem Zeitalter relativer sexueller Freiheit und Freizügigkeit angekommen, doch wenn man genau hinschaut, sind Glaubenssätze über angemessene und unangemessene Ausdrucksformen von Sexualität durchaus noch von Bedeutung. (Um nur ein Beispiel zu nennen: Nicht ohne Grund ist ein „coming out“ als Homosexuelle*r oder Transsexuell*r nach wie vor hochgradig risikobehaftet.)
Zwar sind wohl nur noch wenige davon überzeugt, Sex sollte ausschließlich in der Ehe und zu Fortpflanzungszwecken stattfinden, doch werden sexuelle Begegnungen, die innerhalb einer Partnerschaft stattfinden und/oder mit romantischen Gefühlen verknüpft sind, von vielen höher bewertet als solche „unverbindlicher“ Art.
Wenngleich weibliche Körper an jeder Ecke wenig bekleidet und in williger Pose dargestellt und direkt oder indirekt zum Kauf angeboten werden (Werbung, Pornos etc.), gilt weibliche Promiskuität selbst unter der jungen Bevölkerung nach wie vor als verachtenswert. Die „Ehre“ scheint bei Frauen nach wie vor im Körper verortet zu sein, deshalb ist es natürlich das Schlimmste, wenn sich eine Frau prostituiert.
Es scheint fundamental wichtig zu sein, dass die Sexualität den ihr zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einhält, sonst wird sie bedrohlich. Michel Foucault beschrieb in den 70er Jahren, wie der Wissensgegenstand Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert als eigene Kategorie festgelegt wurde. Sie wurde als obskure dunkle Kraft betrachtet, die alle Bereiche des menschlichen Lebens durchzieht und droht, den Menschen auf Abwege zu führen.
Bis heute wird Sexualität mystifiziert und ihr enorme Macht zugesprochen. Deshalb werden Menschen dazu gezwungen, ihr Begehren zu kontrollieren, um die gesellschaftliche Ordnung nicht zu gefährden.
Gesellschaft ist eine Manifestation von Macht. Abweichungen von den Regeln werden fast immer sanktioniert, denn Regeln und Gesetze haben nur solange Macht, wie Menschen sich an sie halten. Wenn Menschen aufhören, sich an die Regeln zu halten, könnten diese sich verändern oder sogar ganz wegfallen. Dies könnte die Veränderung oder den Wegfall weiterer Regeln nach sich ziehen, was in letzter Konsequenz eine ernstzunehmende Bedrohung für diejenigen wäre, die vom derzeitigen gesellschaftlichen Machtgefüge profitieren.
Haben wir es hier also mit einer Angst vor der sexuellen Enthemmtheit unserer Gesellschaft zu tun? Was wären die befürchteten Folgen dieser Enthemmtheit?
Mehrfachstigma
Sexarbeit war immer schon eine Überlebensstrategie für unbeliebte, randständige und stigmatisierte Gruppen, die oftmals zum Sündenbock für soziale Probleme gemacht wurden: Frauen, Minderheiten, Immigranten, Farbige, Drogenabhängige, Behinderte, Menschen mit Geschlechtskrankheiten, Alleinerziehende, Menschen die sich sexuell auch oder nur für das gleiche Geschlecht interessieren oder sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren können mit dem sie biologisch ausgestattet sind.
Beispielsweise wurden und werden Sexarbeiterinnen und die Sexindustrie gerne für den Zusammenbruch der traditionellen Familie, die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten (allen voran HIV/AIDS) und die steigende Kriminalität in Städten (insbesondere im Zusammenhang mit Drogen) und die „Zersetzung der Jugend“ verantwortlich gemacht.
Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass es für diese Gruppen keine besseren Alternativen gab und gibt? Wie genau soll angeblich die Sexarbeit die traditionelle Familie bedrohen? Ist das Zusammenwirken anderer Ursachen am Wandel dieser Institution und damit zusammenhängender Werte nicht viel wahrscheinlicher? Wieso ist der Erhalt des traditionellen Familienmodells wichtig? Was sind die wahren Ursachen für Drogenkonsum und Kriminalität? Wieso ist die Jugend anfällig für den angeblich schädigenden Einfluss und wo und wie ist sie ihm überhaupt ausgesetzt?
3. Menschenwürde in Zeiten des Kapitalismus
In vielen Gesellschaften, so auch der unseren, gibt es Tabus gegen die Vermischung von Sex und Geld. Weil Sexarbeiterinnen sexuelle Handlungen gegen Geld ausführen, werden sie als abartig und damit unmoralisch, unrein und gefährlich angesehen.
Die Gründe dafür kann ich mir nur so erklären: Sexualität außerhalb anerkannter Rahmenbedingungen (Ehe beziehungsweise Partnerschaft) ist an und für sich moralisch zweifelhaft, umso mehr, wenn daraus auch noch ein materieller Vorteil gezogen wird.
Die Mehrheit der Sexarbeiterinnen waren immer schon Frauen, und sie kratzen damit an zwei weiteren Tabus:
1. Es ist traditionell den Männern vorbehalten, Sex zu „machen“, ohne dass es ihre Essenz berührt, ihn von sich abzuspalten.
2. Es erfolgt eine Umkehrung des Machtverhältnisses in der "normalen" Welt. Beide Beteiligten wissen um das Theaterspiel und inszenieren es mit: Die Frau hat alle Fäden in der Hand.
Prostitutionsgegner*innen argumentieren, die Sexualität gehöre zum unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit und könne daher nicht zum Gegenstand eines Tauschgeschäfts gemacht, das heißt als Ware behandelt werden. Geschieht dies doch, handle es sich um einen Verstoß gegen die Würde des Menschen. Hier wird die Menschenwürde objektiv definiert, also unabhängig von den Vorstellungen ihres Trägers. Oft wird auch nach einem subjektiven Konzept der Menschenwürde, das auf die Autonomie des Einzelnen abstellt, die Sexarbeit als Verletzung der Menschenwürde gedeutet.
Hierzu muss bewiesen werden, dass die Voraussetzungen einer rechtswirksamen Zustimmung nicht vorliegen. Es wird behauptet, dass Frauen sich niemals freiwillig für die Sexarbeit entschieden, sondern aus Mangel an Alternativen, finanziellem Druck oder vorangegangenen sexuellen Missbrauchserfahrungen. Die Überzeugung, sie hätten sich selbst für ihren Beruf entschieden, sei reine Selbsttäuschung und handle sich um eine Illusion, um ein Mindestmaß an Selbstachtung aufrechterhalten zu können.
Häufig wird auch behauptet, dass Sexarbeit zu psychischen Schäden und Problemen führe. Leider gibt es keine repräsentativen Zahlen hierzu. Wenn man davon ausgeht, dass viele Sexarbeiterinnen dieser Tätigkeit aufgrund von prekären Lebenssituationen nachgehen, ist anzunehmen, dass sich die Sexarbeit als Auslöser für psychische Probleme kaum isoliert untersuchen lässt.
Vonseiten der Sexarbeiterinnen ist immer wieder zu hören, dass die Zahl der Frauen, die wirklich Freude an ihrem Beruf haben und dabei psychisch gesund bleiben, sich also keineswegs „abspalten“ oder dissoziieren höher ist, als man gemeinhin annimmt.
Dieses Argument basiert auf der Annahme, Sexualität sei naturgemäß eng mit unserer Persönlichkeit und psychologischen Struktur verknüpft. Von Menschen, insbesondere von Frauen wird erwartet, dass sie beim Sex immer „ganz dabei“ und „authentisch“ sind.
Dabei wird vergessen, dass Sexualität kein unumstößliches Wesen hat. Michel Foucault arbeitete schon vor 40 Jahren heraus, wie ein „vermachtetes Sexualitätsdispositiv“ historisch entstand und durch soziale Kämpfe veränderbar ist.
Sexualität als individuelle Ausdrucksform ist im Übrigen eine moderne Erfindung.
Auch wird häufig die Möglichkeit ausgeschlossen, dass unsere Mitmenschen ihre Sexualität auch anders denken, wahrnehmen und ausagieren können. Viele Sexarbeiterinnen können nach eigenen Aussagen durchaus trennen zwischen ihrer privaten Sexualität und ihrem Beruf. Für manche sind andere Tätigkeiten viel intimer als Sex. Ein Grund, dass Sexualität als so intim wahrgenommen wird, liegt in meinen Augen gerade in der jahrhundertelangen Tabuisierung und Geheimhaltung (ähnlich wie zum Beispiel bei der Körperpflege und den Körperausscheidungen).
Bei der Sexarbeit wird weder der Körper, noch die Seele, geschweige denn die ganze Person verkauft. Tätigkeiten werden vom Menschen als Ganzes abgetrennt und gegen Bezahlung getauscht. Dadurch wird dies als Arbeit anerkannt. Dies ist ein essenzieller Bestandteil des kapitalistischen Systems, in dem es nur eine relative Freiwilligkeit gibt und der Zwang zur Arbeit nicht nur in der Sexindustrie als problematisch angesehen wird.
Es erstaunt mich, dass die Wahrung der Menschenwürde und Freiwilligkeit nur im Zusammenhang mit Sexarbeit aufgeworfen wird, nicht aber in der kaum weniger von Ausbeutung und Intimität geprägten häuslichen Pflege oder im Bereich der Gebäudereinigung (beides Berufe, die hauptsächlich von Frauen aus stigmatisierten Gruppen ausgeübt werden). Wieso halten wir den Verkauf von Körpern im Profifußball nicht für anstößig? Wie psychologisch gefährlich sind eigentlich prestigebehaftete Jobs in Führungspositionen?
Will man gegen die Kommerzialisierung von Leib und Seele vorgehen, müsste man nicht nur die Prostitution, sondern auch Erotik-Filme, erotisierende Werbung, Talk-Shows und Big Brother als menschenunwürdig betrachten und verbieten.
Sexualität wird auch außerhalb der Sexindustrie und den Medien gern als Tauschobjekt eingesetzt, zum Beispiel um berufliche Vorteile zu erlangen oder um innerhalb einer Ehe/Partnerschaft materielle Vorteile abzusichern. Es soll sogar vorkommen, dass Frauen sich beim Sex innerhalb einer Partnerschaft „abspalten“ und in andere Realitäten flüchten. Oft werden Orgasmen vorgetäuscht, damit der lästige Akt schneller vorbei ist.
Übrigens begründet die Menschenwürde „ein Abwehrrecht gegen den Staat“. Daher darf sie nicht gegen die Entscheidung des Individuums mobilisiert und in einen Eingriffstatbestand uminterpretiert werden.“ erklärt uns Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie an der Universtität Halle. Es ist außerdem nicht die Aufgabe des freiheitlichen Rechtsstaats, eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben durchzusetzen.
Sex und Macht
Feminist*innen argumentieren oft, dass Sexarbeit insbesondere gegen die Würde der Frauen verstößt, weil sie die Herrschaftsverhältnisse des Patriarchats widerspiegelt und dadurch das Machtgefälle zwischen Mann und Frau verstärkt. Die feministische Autorin Gunhild Mewes argumentiert: »Weibliche Sexualität ist der Brennpunkt patriarchal-männlicher Machtansprüche. Diese haben verschiedene Ausdrucksformen gefunden, die alle auf die sexuelle Unterwerfung oder Unterordnung von Frauen hinauslaufen: Sexuelle Gewalt, phalluszentrierte Sexnormen und eben Prostitution.« Sexarbeit basiere demnach auf einer patriarchalen Vorstellung von Sexualität, in der der weibliche Körper der sexuellen Befriedigung dient.
Das mag sein. Die Unterdrückung der Frau ist allgegenwärtig und insbesondere in unserer sexuellen Kultur deutlich spürbar. Nur können Sexarbeiterinnen weder etwas dafür, dass unsere Kultur so gestrickt ist, noch dass ihrer Tätigkeit eine Verstärkung besagter Machtmechanismen unterstellt wird.
Diese Betrachtungsweise basiert auf der Annahme, dass es vonseiten der Sexarbeiterinnen in der Regel kein sexuelles Begehren gäbe, dass bei der Sexarbeit immer ein einseitiges sexuelles Interesse verfolgt wird. Man glaubt also zu wissen, wie „weibliche Sexualität“ „normalerweise“ funktioniert. Frauen sind aber nicht „normalerweise“ nur sexuell erduldend und passiv oder empfinden sexuelles Begehren nur geknüpft an emotionale Intimität. Wieso sollte weibliche Sexualität nicht ebenso gierig, eigenmotiviert, ordinär und wild sein, wie es der männlichen gemeinhin unterstellt wird?
Es soll Frauen geben, die es erregt, wenn ein fremder Sexualpartner sie für Sex bezahlt. Die Annahme, dass auf Sexualität „typischerweise“ nur Männer Lust haben und davon profitieren, ist sexistisch.
Ich frage mich, ob hinter der Schwierigkeit, weibliche Sexualität als vielfältig und aktiv zu denken, eine Angst vor einer echten sexuellen Befreiung der Frau steckt? Und wenn ja: Woher die Angst vor weiblicher Sexualität?
Apropos Männer: niemand scheint über die Würde der Freier nachzudenken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass gekaufter Sex eine Art Fetisch ist und dass die Mehrheit der Freier Gefallen an der Unterdrückung und Erniedrigung der Frauen findet. Viel wahrscheinlicher ist, dass Männern Zeit oder sonstige Ressourcen fehlen, um auf anderen Wegen an ihr Ziel zu gelangen. Und dass dieses Ziel keineswegs bloß „Erleichterung“ ist, sondern Nähe, Sinnlichkeit, Lebensfreude.
Die Tatsache, dass man Sexualität, die im „Normalfall“, beziehungsweise „Optimalfall“ aus gegenseitiger Zuneigung stattfindet, für Geld kaufen muss stelle ich mir einigermaßen beschämend und erniedrigend vor. Frauen besitzen gewissermaßen eine begehrte Ware, an die Männer, wollen sie sich nicht strafbar machen, nur unter ganz bestimmten Umständen oder gegen Geld kommen. Denn die Norm gibt ja vor, dass männliches Begehren viel stärker sei beziehungsweise dass die Frau erheblich mehr Risiko eingeht, wenn sie ihr Begehren auslebt.
Forscherin Dr. Sabine Grenz erklärt hingegen in einem Interview mit der Zeit: "Sexualität ist keine 'natürliche' Angelegenheit. Sie entsteht auf der Grundlage psychischer und soziokultureller Bedingungen. Wir müssen eine Situation erst als sexuell interpretieren, damit sexuelles Begehren entsteht. Im Alltag wird die Sexualität heterosexueller Männer viel häufiger angesprochen als die von Frauen, wodurch diese Annahmen bestätigt werden. Aber eine physiologische Grundlage für einen stärkeren männlichen Trieb gibt es nicht.
"Sexarbeiterinnen bestimmen in den meisten Fällen selbst die Regeln und Grenzen ihres Angebotes und können Kunden jederzeit abweisen. Desweiteren bietet die Sexarbeit für viele eine angenehme Alternative zur Versorgerehe oder erniedrigenden und schlecht bezahlten Tätigkeiten. In vielen Fällen ist die Situation der Frauen durchaus nicht alternativlos. Die Sexarbeit bietet ihnen eine Unabhängigkeit und Verdienstmöglichkeiten, die sie in einem „bürgerlichen“ Beruf nicht finden. In meinen Augen sind sie damit fast schon privilegiert.
So betrachtet, dreht sich das Machtgefälle geradezu um. Ich könnte mir vorstellen, dass eine geregelte und gesellschaftlich akzeptierte Form der Sexarbeit sogar gegen „patriarchalische Herrschaftsverhältnisse“ angehen könnte.
Ob und welche Machtstrukturen Sexarbeit verfestigt, kommt also ganz auf die Sicht- und Erzählweisen sowie die sozialen Konstruktionen an. Genau wie die Sexualität hat auch die Sexarbeit kein unumstößliches Wesen. Zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen waren Kurtisanen, Hetären und Tempelprostituierte durchaus hoch angesehen und erfüllten wichtige Funktionen. Sie waren gebildet, künstlerisch begabt und in erotischen Fertigkeiten geschult.
Wie könnte heute eine zeitgemäße Form der Sexarbeit aussehen, die noch dazu zu einer menschenfreundlicheren sexuellen Kultur beiträgt?
Die Zahl der Menschen scheint zu steigen, die Sexualität als Form der Kommunikation mit sozialer Funktion ansehen, als essenziell wichtig für unsere emotionale, mentale und physische Gesundheit, als Kunstfertigkeit und Teil eines erfüllten Lebens. So betrachtet, erfüllen Sexarbeiterinnen eine wichtige Funktion in der Gesellschaft und viele nehmen sich heute schon selbst so wahr.
Sexarbeit ist keine qualifikationslose Tätigkeit und verdient Respekt. In meiner idealen Welt wäre die Sexarbeiterin ein angesehener Ausbildungsberuf und keine Lücke im Lebenslauf. Zurzeit entstehen übrigens immer mehr Ausbildungskonzepte, die ganzheitliche Körperarbeit, sexuelles Vergnügen, Beratung und Coaching im Bereich der Gefühle und Sexualität verbinden, teilweise auch therapeutisch.
5. Eva
Ein weiterer hochinteressanter Aspekt der Debatte über Stigma ist die Tatsache, dass das sozialethische Unwerturteil über die gewerbsmäßige geschlechtliche Hingabe vor allem die Sexarbeiterin trifft. Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie an der Universtität Halle, fasst es folgendermaßen zusammen: Die Sexarbeiterin „wird als moralisch minderwertige, lasterhafte Person gebrandmarkt.
Die Bedrohung für die allgemeine Sittlichkeit geht dieser Vorstellung zufolge nicht primär von den Freiern aus, sondern von der unmoralischen Versuchung durch Frauen, die sich die Schwäche der Männer zunutze machen und aus ihrem Sexualtrieb Gewinn ziehen.“
Hier wird sehr schön sichtbar, wie christlich geprägte Stereotypen nach wie vor unsere vorgeblich aufgeklärte und egalitäre Gesellschaft durchziehen. Eva, die Verkörperung der sinnlichen Verführung, der Grund für den Untergang des Mannes. Von den bösen Mächten in Versuchung geführt, versuchte sie den Mann. Ihre bloße Existenz ist eine Erinnerung an die physischen Begierden, denen man widerstehen muss, will man der ewigen Bestrafung entgehen.
Die Tatsache, dass die Sexindustrie floriert, bedeutet dann wohl, dass Männer ihren Trieben hilflos ausgeliefert sind, während Frauen diese Schwäche schamlos zu ihrem Vorteil ausnutzen. Männer kommen hier in meinen Augen nicht wesentlich besser weg als Frauen. Doch wenigstens werden sie nicht für den Verfall der allgemeinen Sittlichkeit verantwortlich gemacht. Weil sie ja nichts dafür können.
Ich glaube weder daran, dass Männer „von Natur aus“ triebhafter sind als Frauen, noch dass sie ihre Triebe weniger unter Kontrolle haben. Nichtsdestotrotz ist die Frage interessant, warum so viele Männer offensichtlich sexuell unerfüllt sind. Und warum sie mit dieser Unerfülltheit anders umgehen als Frauen.
In der Käuflichkeit der Liebe steckt offenbar ein Stachel, der die bürgerliche Gesellschaft aufs Blut reizt.
Das soll als Schlusswort vorerst reichen, denn meine kleine Untersuchung ist an dieser Stelle sicherlich nicht beendet. Zuviele Fragen sind noch offen:
Ist Sexarbeit eine private Angelegenheit oder eine öffentliche?
Ist der Staat in der Pflicht, Menschen vor sich selbst zu schützen?
Warum wäre es so schlimm, die bestehende soziale Ordnung zu gefährden?
Sind wir mit der bestehenden Ordnung glücklich?
Was müsste sich in unserer (sexuellen) Kultur ändern, damit wir Sexarbeit als anerkannten und respektierten Beruf etablieren können?
Wäre in einer Welt ohne monetären Tausch Sexarbeit immer noch problematisch? Also Sexualität, die nicht auf gegenseitiger Lust beruht, sondern als Geschenk an eine andere Person stattfindet und bei der kenntnisreiche Personen ihr Wissen über Sexualität gesellschaftlich nutzbar machen?
*) Weil der Diskurs so arg mit sexistischen Sichtweisen und Argumenten gespickt ist, habe ich mich hier dafür entschieden, nur über weibliche Sexarbeiterinnen zu sprechen. Eine geschlechterneutrale Betrachtung wäre ein völlig anderer Text mit anderer Argumentationsstruktur. Das gleiche gilt für Analysen von Sexarbeit unter Männern und anderen Geschlechtern.
**) Es lassen sich hier unzählige Beispiele finden: Homosexualität, Bisexualität, Queer, Mehrfachbeziehungen, Fetisch und BDSM, Tantra …
Quellen
Michel Foucault – Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit
James Carse – Finite and Infinite Games
Toni Mac - The laws that sex workers really want
Das könnte dich auch interessieren: