Warum Tantra-Massage?
Sexuelle Befreiung war gestern
Lesezeit: 5 Minuten
Ich halte regelmäßig die Zeit in meinen Händen.
Es heißt, in der Tantra-Massage geht es um Liebe
Das stimmt – wenngleich nicht die Art von Liebe, die man gewöhnlich mit diesem Wort in Verbindung bringt.
Ich stelle in letzter Zeit fest: Meine Motivation ist gleichermaßen Liebe wie Wut.
„Ich bin so erschöpft. Ich finde keine Ruhe. Bitte hilf mir, meine Akkus wieder aufzuladen:“
Seit über zehn Jahren sinken Menschen vor mir in den Stuhl und schauen mich matt und ausgelaugt an. Sie sehnen sich nicht in erster Linie nach einem erotischen Erlebnis – sondern nach etwas noch Essenziellerem: Nach Ruhe.
Sie suchen nach Zuflucht vor einer Welt ohne Pausenknopf.
Es heißt, in der Tantra-Massage gehe es um Sexualität
Das stimmt – wenngleich nicht die Art von Sexualität, die man gewöhnlich mit diesem Wort in Verbindung bringt.
Der Reiz meiner Arbeit lag einmal für mich darin, exquisite sinnliche Kunstwerke zu schaffen. Aber nur ein einziges Mal saß eine Person wach und kraftvoll vor mir und sagte: "Ich habe Lust auf Lust!".
Die wenigsten sind in der Lage, das Kunstwerk wirklich zu schätzen, das ich erschaffe. Sie sind einfach zu müde, zu leer. Das macht mich traurig.
Und wütend: Wütend auf unsere Kultur, die uns einredet, wir müssten ständig etwas "leisten", um unseren Wert zu beweisen.
Wütend auf unsere sogenannte "Zivilisation", die uns zu einer würdelosen Existenz zwingt, eine Existenz mit angeknackstem Selbstwertgefühl und unterernährter Seele.
Die berührendsten Momente in der Tantra-Massage
...sind für mich die, wo augenscheinlich nichts passiert:
Ich halte deine Hand.
Ich halte deinen Fuß.
Ich halte dein Herz, das vergessen hat, dass es auch langsam schlagen darf.
Ich halte für dich die Zeit an: Damit du dich erinnern kannst.
Daran,
dass du genug bist – genauso wie du jetzt bist.
dass du jederzeit tief atmen darfst – und sonst nichts tun musst.
dass du ein Recht auf Ruhe und Erholung hast – Ausruhen ist so natürlich wie Atmen und Aufwachen.
dass du Liebe und Fürsorge verdient hast – einfach nur, weil du lebst.
dass du genießen darfst – das Leben, deinen Körper, deine Lust, das ausgiebige, ölige Räkeln auf einer Heizdecke.
„Was die Tantra-Massage uns zeigen kann – selbst wenn wir sie nicht praktizieren oder in Anspruch nehmen wollen – ist, wie zentral unser Umgang mit Lust und Körperlichkeit für unsere Lebensqualität ist. Und dass konkrete Praktiken uns dabei helfen können, eine Haltung zum Leben zu finden, die unserem dauerhaften Wohlergehen dienlich ist.“
Für mich war die Tantra-Massage immer schon ein Manifest
Eine Botschaft: über meine Hände direkt ins Herz. Sie spricht von Liebe und Lust, aber auch von Sicherheit und Geborgenheit, von Spielfreude und Leichtigkeit, von Verletzlichkeit – von roher, zarter Menschlichkeit.
Und von Ruhe.
Vielleicht ist sie auch ein Akt der Rebellion?
Zärtlicher, trotziger Widerstand gegen eine Welt, die unsere Erschöpfung normalisiert – und von ihr profitiert.
Erschöpfung macht uns blind, taub, stumm und manipulierbar.
Innere Leere und seelischer Hunger machen uns zu guten Konsument*innen.
Ich frage dich:
Wie willst du herausfinden, wer du wirklich bist und wofür du hier bist, wenn du nie die Ruhe hast, zu dir zu finden?
Welche wundersamen Momente entgehen dir, weil du dir keine Muße erlaubst?
Was hast du in der Eile und Hast bisher übersehen?
Welche Weisheit wartet in der Stille zwischen deinen Gedanken?
Welche Teile deiner selbst hast du an die mahlenden Zahnräder der Geschäftigkeit verloren?
Wer bist du, tief unter der Gehirnwäsche und dem Terror der Dauerleistungsgesellschaft?
Weißt du überhaupt, wie sich Ausruhen anfühlt? Hast du Vorbilder dafür?
Wie würde es sich anfühlen, konstant ausgeruht zu sein?
Was will dein Körper?
Was braucht deine Seele?
Es heißt, in der Tantra-Massage geht es darum, mit sich selbst in Kontakt zu kommen
Das stimmt – aber ich hoffe, dass es nicht bei diesen außeralltäglichen Momenten des Bei-sich-Seins und des Aufladens bleibt. Ich möchte nicht dabei helfen, Menschen wieder soweit wiederherzustellen, dass sie wieder Output liefern können.
Ich wünsche mir, dass die Nahrung, die ich mittels Nähe, Berührung und Atem zur Verfügung stelle, nachhaltig wirkt. Dass in der Ruhe Erkenntnisse einsetzen, die sich in ihrem Leben auswirken.
Sie haben dich belogen:
Du bist keine Maschine.
Du bist nicht auf die Welt gekommen, um produktiv und effizient zu sein.
Dein Körper gehört nicht dem Kapitalismus. Er ist nicht dafür da, Profit zu machen.
Du brauchst deine Existenz nicht zu rechtfertigen, indem du ein nützliches Rädchen im System bist.
Erschöpfung ist keine normale Lebensweise.
Dein Wert bemisst sich nicht an deinem Kontostand oder an der Zahl abgehakter Kästchen auf deiner To-Do-Liste.
Du musst dich weder schämen noch schuldig fühlen, wenn du "faul" bist.
Ruhen ist keine Zeitverschwendung, kein Luxus und kein Privileg: Du musst dir Erholung nicht verdienen, indem du dich an den Rand der Selbstzerstörung arbeitest.
Es gibt keinen Grund, stolz darauf zu sein, die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren.
Du bist liebenswert und wertvoll, selbst wenn du nie wieder eine Aufgabe auf deiner To-Do-Liste erledigst.
„May we have space to navigate our lives from a liberated rest state. [...]
Joy is our birthright. Pleasure is our balm. Rest is our resistance. [...]
It is time to begin the dismantling of the cult of busyness one person at a time. One heart at a time. One body at a time.“
Es heißt, im Tantra geht es um Befreiung
Das stimmt – aber sexuelle Befreiung ist heute offenbar nicht mehr das Wichtigste.
Im traditionellen Tantra hätte Sex-Positivität ohnehin keinen Sinn gemacht. Es ging vielmehr darum, sich zu ent-programmieren: mithilfe von Meditation, Visualisierung, Mantras und Atemtechniken nach innen zu blicken, den eigenen Wert als göttlich zu erkennen und so den Geist zu befreien.
Insofern hat die Tantra-Massage vielleicht unabsichtlich doch gewisse Ähnlichkeiten mit dem "Original":
Freiheit bedeutet:
Hyperproduktivität und Selbstoptimierung abzuschwören
Uns selbst wertzuschätzen, indem wir ruhen, und uns so mit den tiefsten Schichten unseres Selbst zu verbinden
Sich Zeit zu nehmen und den kulturellen Zwang zur Eile zu durchbrechen
Freiheit ist die Weigerung, über das nächste Stöckchen zu springen, wenn deine Seele sich nach Stille sehnt
Einfach zu sein. Zu existieren. Zu atmen. Zu genießen.
Unseren Körper als eine Art GPS zu achten, der uns zu einem natürlicheren Seins-Zustand führt: Ein Zustand der Liebe, des Träumens, des Staunens und der Neugier
Was mag uns auf der anderen Seite der Erschöpfung erwarten?
„Die Kunst des queeren Scheiterns erträumt eine neue, zärtlichere und regenerativere Version des guten Lebens, dank des Versagens an den konkurrenzbetonten und erbarmungslosen Happy-End-Modellen“
Das könnte dich auch interessieren: