Spiritualität versus Esoterik

Was ist der Unterschied?

Lesezeit: 8 Minuten


Tantra-Massage klingt als Idee total gut für mich. Aber das esoterische Gehabe kann ich einfach nicht ertragen!" Als ich diesen Satz letztes Jahr zum dritten Mal hörte, war klar: da muss man was machen. So machte ich mich an die Arbeit und schrieb mein (erstes) Buch über Tantra-Massage – „ohne Esoterik und ohne Blabla".

Während des Schreibens, Nachdenkens und der parallel laufenden Gespräche mit Freund*innen und Gäst*innen wurde mir klar, dass ich die Begriffe „Esoterik" und „Spiritualität" sehr unterschiedlich verwende und bewerte. Das möchte ich hier kurz erklären.

(Disclaimer: Beides sind vielschichtige Begriffe, die vielfältig ausgelegt werden können. Es gibt für sie ebensowenig eine allgemeingültige Definition wie für „Religion". Als studierte Religionswissenschaftlerin weiß ich um die Komplexität des Themas. Aber dies ist ein Blogartikel und keine Doktorarbeit.)




Eine verhängnisvolle Verwechslung

Woran denkst du, wenn das Wort „Esoterik" fällt? Die meisten haben sehr ähnliche Assoziationen:

Esoterische Menschen

  • machen Yoga in eigens dafür hergestellten schweineteuren Hosen

  • benutzen Räucherstäbchen und ätherische Öle

  • gehen zur Akupunktur und schlucken homöopathische Kügelchen

  • tragen Heilsteine um den Hals und chinesische oder indische Schriftzeichen als Tattoos

  • haben eine App, die ihnen täglich geführte Meditationen vorschlägt

  • folgen Spirifluencer*innen auf Instagram und teilen hin und wieder pseudo-tiefgründige Sinnsprüche

  • üben sich in buddhistischem Gleichmut

  • hängen sich Affirmationen an die Wand

  • machen Tantra-Kurse

  • vertreten zuweilen zweifelhafte politische Einstellungen

  • bezeichnen sich selbst als „spirituell", niemals als „esoterisch"

  • und beschäftigen sich im Großen und Ganzen aber hauptsächlich mit sich selbst

Sie machen Spiritualität zum flauschigen Nest, in das sie sich setzen, wenn ihnen die Welt zuviel wird. Licht und Liebe. Eat Pray Love. Good Vibes Only.

Und so kommt „Spiritualität" heutzutage meist so eklektisch, naiv und gnadenlos positiv daher, dass vernunftbegabte Menschen nur mit den Augen rollen können. Fragwürdige Ästhetik und merkwürdiger Sprachduktus tragen zum Befremden bei. Es ist als würden die Leute ihren Verstand an der Tür abgeben, wenn sie sich auf die spirituelle Suche begeben, nebst Stil und gutem Geschmack.

Was heute „spirituell" genannt wird, erweist sich meistens als wenig reflektierte DIY-Spiritualität, wild zusammengerührt aus Zutaten mit unterschiedlichsten kulturellen und geistesgeschichtlichen Hintergründen.

Der Großteil der geläufigen Ansichten und Überzeugungen ist allerdings eher auf humanistische Psychologie oder Pseudowissenschaft zurückzuführen, weniger auf spirituelle Traditionen – wobei die Übergänge oft verwischen. Für Außenstehende klingt das Ergebnis oft haarsträubend, um nicht zu sagen: schwachsinnig.

Was heute unter dem Label „Spiritualität" läuft, würde wohl für Inder*innen, für japanische Zen-Mönche, für echte Schaman*innen und christliche Priester*innen keinen Sinn machen – eher fänden sie es entweder lächerlich oder empörend.

Was ist der Unterschied?

Dass die Yoga-Matte den Gottesdienst abgelöst hat, kann man durchaus für eine positive Entwicklung halten. Insgesamt halte ich die Verwechslung von Esoterik mit Spiritualität aber für einigermaßen problematisch.

Meiner Meinung nach unterscheiden sich Esoterik und Spiritualität folgendermaßen:

  • Esoterik kostet Geld

  • Spiritualität kostet Zeit, Konzentration und Disziplin

  • Esoterik fordert und fördert Leichtgläubigkeit

  • Spiritualität fordert und fördert einen wachen Geist

  • Esoterik betreibt einen Kult um das Selbst

  • Spiritualität verortet den einzelnen Menschen in der Welt

  • Esoterik bedient sich oft bei anderen Kulturen

  • Spiritualität basiert auf universellen Prinzipien und Erfahrungen

  • Esoterik befriedigt die zugrundeliegenden Bedürfnisse nicht – sonst könnte man nicht immer noch mehr davon verkaufen

  • Spiritualität kann das unter Umständen schon

Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hat Spiritualität jede Menge Sinn gemacht – denn dafür war sie ja da.

Sie hat

  • Orientierung geboten

  • Werte vermittelt

  • die Gemeinschaft zusammengehalten

  • räumliche und zeitliche Ankerpunkte gebildet

  • geholfen, die Tatsache unserer Existenz und unserer Sterblichkeit zu deuten und das individuelle Leben zu strukturieren

  • Momente der Außeralltäglichkeit geschaffen und uns damit immer wieder daran erinnert, dass es Größeres (und noch Rätselhafteres) gibt als uns selbst

Der spirituelle Unsinn, der heute vielerorts verzapft wird und die erschreckende Leichtgläubigkeit der Leute beweist keinesfalls, dass Spiritualität unsinnig und überflüssig ist, sondern zeugt vielmehr von der Dringlichkeit eines Bedürfnisses: Es gibt eine klaffende Lücke in unserer Kultur, spätestens jetzt, wo die wenigsten mit dem Christentum noch etwas anfangen können.

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Die verlorene Dimension

Aber eigentlich haben wir uns schon seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden, so einiges von dem abtrainiert, was für unsere Vorfahr*innen selbstverständlich war:

  • Den „6. Sinn" – Intuition(en) von einer Tiefe und Reichweite, die wir heute gar nicht mehr kennen

  • Allerlei andere „übersinnliche" Fähigkeiten

  • Eine Beziehung zur Natur, die über gelegentliches „Waldbaden" hinausgeht

  • Ein Gespür für die Gezeiten des Lebens

  • Geschichten, Mythen und Symbole

  • Das Erleben und Einordnen mystischer, transzendenter und ekstatischer Zustände

  • Die Anerkennung anderer Bewusstseinsformen als gleichwertiges Gegenüber (Tiere, Pflanzen, Gött*innen, Geistwesen, Kobolde ...)


Während die einen sich mit Kristallen behängen, Mantras singen und mit glasigen Augen ihren Gurus lauschen, tun die anderen alles, was nach Metaphysik, Mystik oder Mindfulness riecht, als vernunftwidrige, unbeweisbare und nutzlose Hirngespinste ab. Das zeugt meiner Ansicht von der ekelhaften Hybris, die westliche Kulturen nach wie vor auszeichnet – sowie der damit einhergehenden Dummheit.

Nur objektiv messbares oder logisch herleitbares als „wahr" anzuerkennen ist eine menschheitsgeschichtlich sehr junge Idee, deren Wert und Nutzen sich meiner Meinung nach noch nicht erwiesen hat.

Die längste Zeit waren oben genannte „Phänomene" völlig normaler Teil menschlichen Lebens, deren Realität anzuzweifeln niemandem in den Sinn gekommen wäre. Eine Realität, die nicht auf Messinstrumente und Vernunft angewiesen ist, sondern sich aus Erleben, Erfahrung und praktischem Nutzen speist. Genauso gut könnte man die Existenz des Unterbewussten oder des authentischen Wesenskerns infrage stellen, die uns angeblich allen innewohnen.

Der Glaube [sic!], man könne auf alles jenseits von Logik, Vernunft und beweisbaren Fakten verzichten, hat uns einiges gekostet – wir wissen nicht einmal mehr so recht, was:

  • Eine Art inneren Friedens?

  • Ein Sich-Zuhause-Fühlen in der Welt?

  • Linderung unserer existenziellen Einsamkeit?

  • Einen Kompass, der uns hilft, unser Leben zu navigieren?

Und wie viel von dem Irrsinn, der unsere sogenannte Zivilisation auszeichnet, ist eigentlich ein Versuch, genau diese Lücke zu kompensieren (Konsumkult, Celebrity-Kult, romantische Liebe, Doomscrolling, Drogensucht, Sexsucht, Arbeitssucht, Perfektionismus, Nihilismus, ...)?

Ein dritter Weg

Das Bedeutungsspektrum von „Spiritualität" ist wohl ungefähr so groß wie das von „Sex": Wir glauben ungefähr zu wissen, wovon die Rede ist, aber bei genauem Hinsicht sind die Praktiken, die alle in diese Kategorien fallen, so vielgestaltig, dass die Fantasie eines einzelnen Menschen gar nicht ausreicht, sie sich alle auszumalen.

Ich habe mich in meinem Leben immer wieder und intensiv mit verschiedenen Formen von Spiritualität, mit Parapsychologie, Philosophie, Metaphysik und Magie beschäftigt, ohne mich dabei für eine einzige Schule, Tradition oder auch nur eine Technik festlegen zu können. Sich die eigene spirituelle Haltung und Praxis collagenartig selbst zusammenzustellen, ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.

Es kommt auf die Qualität der Materialien an.

Es muss möglich sein, Formen spiritueller Praxis zu entwickeln, die in unserer Zeit ihren ursprünglichen Zweck erfüllen, ohne dabei in verknöcherte Dogmen zu verfallen oder, auf der anderen Seite, ihren Inhalt so weit zu verwässern, dass er einem durch die Finger rinnt. Formen, die nicht kitschig und klebrig sind - bei denen man seine Würde nicht mehr oder weniger verliert.

Vielleicht ist das sogar genau das, was wir brauchen, um angesichts der Herausforderungen, die uns erwarten, bei Verstand zu bleiben?

Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Menschen spirituelle Bedürfnisse hätten oder dass es besser wäre, spirituell zu sein. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es in diesem Bereich immer noch Schätze zu heben gibt – man muss nur weise wählen, wo man zu graben beginnt.



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