Von Liebe, Angst und Freiheit

Von der Angst

In unserer gegenwärtigen Kultur ist die individuelle Geschlechtsliebe ein Fetisch, eine gesellschaftliche Mystifikation.
— Volkmar Sigusch


Stellen wir uns eine unkonventionelle Liebesgeschichte vor:

Zwei Menschen begegnen sich alle paar Monate im Zusammenhang mit Projekten des gemeinsamen Freundeskreises. Sie lieben sich innig, sind körperlich nah und teilen Sexualität, verbringen jedoch kaum zweisame Zeit miteinander, die lediglich dem Genuss der gegenseitigen Gesellschaft dient.

Sie finden es nicht wichtig, viel zu wissen über das Leben und die Geschichte des* anderen. Auch nicht, einander von ihren Gefühlen füreinander zu erzählen. Ebensowenig findet Kommunikation statt, die dazu dient, sich wechelseitig ihre Wunderbarkeit, Einzigartigkeit und ihren Wert zu bestätigen. Im Mittelpunkt steht das Fühlen und Spüren einerseits, die Auseinandersetzung über gemeinsame Themen, Interessen, Wege, Ziele und Vorhaben andererseits.

Zwischen den Treffen pflegen sie so gut wie keinen Kontakt und wissen dennoch, dass sie einander im Herzen tragen und sich einander verbunden fühlen. Mit der gemeinsam verbrachten Zeit vertiefen sich zwar ihre Zuneigung und Gefühle von Nähe und Verbundenheit. Wünsche, Ansprüche, Erwartungen entstehen daraus jedoch nicht. Sie wissen nichteinmal, wann sie sich wiedersehen werden – und ob überhaupt.

Diese Liebe lebt nur in der Gegenwart. Gemeinsame Geschichte spielt kaum eine Rolle und aus der Art und Intensität der Begegnungen in der Vergangenheit lässt sich nur sehr begrenzt auf die gemeinsame Gestaltung der Gegenwart schließen. Ebensowenig trägt die Gegenwart keinerlei Verweis auf die Zukunft in sich.

Zwei hochautonome Wesen, die nichts voneinander brauchen und wollen, genießen einander aufs Intensivste, genau jetzt. Jede Form gemeinsamen Handelns oder Interaktion, sei es Kochen, Sprechen, Berührung oder Sex wird als Selbstzweck ausgeführt, enthält ein Moment des einander Erkennens und Erfreuens und steht in seiner Momenthaftigkeit für sich allein.

Man könnte diese Liebe „absichtslos“ nennen. Weder die Person noch die Beziehung zu ihr erfüllt einen Zweck. Es gibt kein Skript, kein Ziel, nichts worauf man hinarbeitet, was man erreichen oder erlangen möchte. Es geht nicht darum, die Bindung zu festigen, Vertrauen zu entwickeln, einander in allen Winkeln kennenzulernen oder Sicherheit und Geborgenheit zu finden. In diesem Sinne ist sie auch bedingungslos – das Gegenüber muss nicht auf bestimmte Weisen handeln, um dem anderen die Bedürfnisse zu erfüllen, die es an Liebespartner hat oder die Rollen zu erfüllen, die Liebespartner für sein Leben spielen.

Kein Plan, keine Konvention, keine Orientierung. Diese Liebe ist extrem frei – so frei, dass es Angst macht. Aber wieso? Wieso scheinen Liebende in Zeiten hochgradiger Individualisierung nach wie vor die immer gleichen Wege zu gehen? Wieso nehmen so viele Reißaus, sobald ihnen eine Liebe begegnet, die nicht den ausgetretenen Pfaden zu folgen scheint?

Schauen wir uns einmal einige Fragen an, die häufig aufzukommen scheinen:


Was bedeutet das alles?
Worauf kann ich mich verlassen?
Angst vor Verletzung.


In Augenblicken der Liebe nehmen wir wie kaum sonst die Qualität des Lebens wahr. Insofern messen wir der Liebe, die immer exklusiv und einzigartig ist, enormen Wert für unser Lebensglück bei. Diesen Zustand wollen wir uns natürlich erhalten.

Gleichzeitig ist kaum jemand ganz und gar frei von sogenannten Bindungsstörungen oder unvorbelastet durch frühere Beziehungen. Und erstaunlicherweise scheinen wir einer geliebten Person noch mehr zu misstrauen als unseren Eltern.

Die Liebe geht für gewöhnlich mit einer gefühlsmäßigen Öffnung einher, über die wir zuweilen wenig Kontrolle zu haben scheinen und die ein Gefühl von Ausgeliefertheit und Verletzlichkeit hervorruft. Wir gehen üblicherweise davon aus, dass nur Menschen, mit denen wir in bestimmten Formen von Beziehungen stehen - Familie und Lebenspartner – gewissermaßen „verpflichtet“ seien, auf unser Wohlergehen zu achten und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Allen anderen Menschen, egal wie innig wir einander lieben, egal wieviel Sex wir mit ihnen hatten, müssen wir zu einem gewissen Grade misstrauen, weil wir keinen „Anspruch“ auf ihre Rücksichtnahme haben.

Also fürchten wir uns und versuchen daher impulsiv, die Gegenwart in eine Form zu gießen, die einen möglichst gleichbleibenden Zustand von Glückseligkeit garantiert. Ist dies nicht möglich, sind wir in ungewohnter Weise mit der unausweichlichen wie gefürchteten Tatsache konfrontiert, dass Beziehungen jeglicher Art durch beständigen Wandel charakterisiert sind, dass Menschsein ein Moment der Unberechenbarkeit enthält und dass „Sicherheit“ eine Illusion ist.


Was bedeute ich ihm/ihr?
Was will er/sie von mir?
Bedürfnis nach Anerkennung.


Die Suche nach Bestätigung und Zuneigung durch andere prägt das Leben der meisten Menschen. Unser Wert für andere ist essenziell wichtig für unser Selbstwertgefühl, das sich heuzutage nurmehr aus dem Selbst an sich speist, welches wiederum von der Anerkennung der anderen, insbesondere Liebespartnern, abhängig ist. Die Anerkennung und Bestätigung durch den/die Liebespartner*in wird oft als die Wichtigste erachtet.

Zusätzlich scheint sie für viele nur zu „zählen“ oder überhaupt wahrgenommen zu werden, wenn sie in bestimmten Ausdrucksformen daherkommt (eine gewisse Frequenz gemeinsam verbrachter Zeit, Kontinuität von Kommunikation in Zeiten räumlicher Trennung, Kosewörter, Händchenhalten, Zukunftspläne, Integration in Familie/Freundeskreis etc.)

Es ist verwirrend, wenn dies alles wegfällt. Zum einen fehlt uns das Gefühl von Bestätigung und Aufwertung, dass wir aus Liebesbeziehungen gewohnt sind. Zum anderen fragen wir uns vielleicht, wieso eine Person Interesse an unserer Gegenwart hat, die nichts von uns zu brauchen scheint.


Wo führt es hin?
Was habe ich davon?
Suche nach Sinn und Zweck.


Wenn "der andere, mit seinem Sein bewaffnet, in mein Leben getreten ist und es damit zerbrochen und neu zusammengesetzt hat", entsteht „die Bühne der Zwei“, so der Philosoph Alain Badiou. Liebe bringt immer Kontrollverlust mit sich. Leider wird üblicherweise davon ausgegangen, dass ein Sich-verlieben automatisch dazu führt, dass man eine Partnerschaft eingeht und dies wiederum bedeutet, dass wir unsere Leben so umgestalten müssen, dass sie zu einem werden.

Das ist aufwändig und führt dazu, dass Liebespaare sich hauptsächlich miteinander und ihrem gemeinsamen Leben beschäftigen. Dieser Aufwand wird oft damit gerechtfertigt, dass eine „Beziehung“ einen festen Haltepunkt bieten soll, damit man die Welt besser aushalten kann.

Einsamkeit gilt als ungesund, nicht zuletzt deshalb, weil man davon ausgeht, dass Menschen diese Form von Bezogenheit und geteilten Lebens brauchen, um glücklich zu sein. Um die Festigkeit des Haltepunktes herzustellen, versucht man üblicherweise, einem gesellschaftlich vorgegebenen Verlauf und räumlicher wie zeitlicher Struktur zu folgen (zusammenziehen, heiraten, Familie gründen usw).

Ist der Liebe wie dem Sexuellen seelisch und sozial die Funktion zugewiesen, gesellschaftliche Leere zu überbrücken, Lücken aufzufüllen, Sinn vorzutäuschen, Lebendigkeit einzublasen, die Menschen überhaupt noch etwas Menschliches spüren zu lassen, so tun beide eben dies alles. Denn wir wollen alle lieben und geliebt werden, auf dass unsere kleine Welt voller erregter Harmonie sei und die große wenigstens augenblicklich in Ordnung. Wir wollen alle mit einem Menschen glücklich sein. Dieser Wunsch der Wünsche hat die Kraft einer Naturgewalt.
— Volkmar Sigusch


Hat eine Liebe einen Wert, die nirgens „hinführt“? Die uns keinen Schutz gewährt vor den Unbillen des Lebens? Die uns keinen Bezugspunkt bieten will, an dem wir uns orientieren können, um die Verantwortung für unser eigenes Lebensglück zu umgehen?





Von der Liebe

Die Liebe ist die unbegreiflichste, weil grundloseste, selbstverständlichste Wirklichkeit des absoluten Bewußtseins.
— Karl Jaspers

Frei zu lieben* ist zuweilen nicht leicht. Wenn wir ausgetretene Pfade verlassen wollen, müssen wir unseren eigenen Weg finden. Ein Kompass (unsere Werte und Ziele, unser Lebensweg, was uns wichtig ist im Leben) und eine Landkarte (unsere persönliche Auffassung darüber, was Liebe und Beziehung ist und wie sie funktionieren) wären dafür nützlich, doch beide müssen wir eigentlich erst einmal selbst herstellen. Beginnen wir mit der Landkarte – einige Gedanken darüber, was Liebe wohl sei.


„Liebe ist ein Rausch, der erfunden wurde, damit wir ficken.“


So bringt Friedemann Karig eine mögliche Betrachtungsweise auf den Punkt. Liebe ist kein Gefühl, auch kein Konglomerat von Gefühlen, sondern ein archaischer Trieb, ein Drang, wie Durst und Hunger. Verliebte sind berauscht von körpereigenen Drogen, vor allem Dopamin und Oxytocin.

Neurophysiologisch unterscheidet sich dieser Zustand nur unwesentlich von einem Kokainrausch. Das Erlebnis ist jedoch ein ganz anderes, weil Liebe uns etwas bedeutet. Dieser Hormoncocktail soll uns dazu bringen, Nachwuchs zu zeugen. Und nicht nur das: Während des Menschwerdungsprozesses brachten unsere Vorfahren ihren Nachwuchs in immer früheren Entwicklungsphasen zur Welt, was zur Folge hatte, dass sie sich immer länger um sie kümmern mussten.

Viele finden die These schlüssig, dass die Natur dem Menschen so viel Bindungslust mitgegeben hat, um sicherzustellen, dass sie den sich langsam entwickelnden Nachwuchs eine gewisse Zeit gemeinsam versorgen. Die Annahme, dass dies optimalerweise in Zweierkonstellationen geschehen müsse, ist vermutlich später hinzugekommen. Viele glauben, die monogame Beziehung bzw. Ehe sei nicht nur ein konstruiertes Ordnungsprinzip des Privaten, sondern auch ein Machtinstrument, das dazu dient, die Menschen unter Kontrolle zu halten.


Die Liebe ist ein soziales Konstrukt 


Ab einer Zahl von 150 Personen können Gruppen sich nicht mehr selbst zusammenhalten (die sogenannte Dunbar-Zahl bezeichnet die theoretische kognitive Grenze der Anzahl an Menschen, mit denen wir soziale Beziehungen unterhalten können).

Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, wie im Laufe der Zivilisationsgeschichte unter anderem Mythen dazu dienten, den Zusammenhalt in den immer größer werdenden Gemeinschaften zu sichern.

Hierzu gehören nicht nur sinnstiftende Erzählungen wie der Gilgamesch-Epos, sondern beispielsweise auch Götter, Nationen, Geld, Indivdualismus und die Menschenrechte. Diese Dinge existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt, in den Geschichten, die wir erfinden und einander immer wieder erzählen.

Nichstdestotrotz ist jede großangelegte menschliche Unternehmung fest in diesen Geschichten verwurzelt. Die erfundene Ordnung formt die wirkliche Welt, bis wir uns kaum noch eine andere vorstellen können.

Von Geburt an wird jeder unserer Wünsche, selbst die persönlichsten, durch die Mythen der erfundenen Ordnung geprägt. In meinen Augen gehört die Liebe ebenfalls in diese Kategorie.

Sie ist ein Mythos, der irgendwann erfunden wurde und seither unser Gefühlsleben prägt und unser Leben strukturiert. Tatsächlich gibt es unzählige verschiedene Liebesmythen – wir haben es heutzutage in unserer westlichen Kultur mit der sogenannten „romantic love“ zu tun.

Diese spezifische Form von Liebe bezeichnet Eva Illouz als ein erfundenes Gefühl, das durch die omnipräsenten Liebesgeschichten erschaffen wird. Unsere Einbildungskraft hinsichtlich der Liebe bekommt so eine eindeutige narrative Form, die unser Gefühlsleben und unsere Wünsche prägt.

Ich bin wie Friedemann Karig davon überzeugt, dass es nicht das Lieben ist, das uns so schwerfällt, sondern das Nachspielen dieser Geschichte.

Um eine erfundene Ordnung aufrechtzuerhalten, sind konstant Anstrengungen erforderlich, die die Form von Zwang und Gewalt annehmen können. Obwohl uns der Mythos der romantischen Liebe unser Leben lang auf verschiedenste mehr oder weniger subtile Arten und Weisen nachhaltig eingebrannt wird, werden wir im Ernstfall zusätzlich in bestimmte Beziehungsstrukturen gezwungen (ich denke da z.B. an die Sonderrechte, die verheiratete Paare gegenüber anderen Beziehungsformen haben).


*Der Begriff „
Liebe“ wird für die verschiedensten Arten von gefühlsmäßigen Reaktionen und Bezogenheiten verwendet. Hier soll es nicht um die Liebe gehen, die man für einen Urlaubsort oder ein Musikstück hegen kann. Auch nicht um Nächstenliebe oder Liebe zwischen Eltern und Kindern. Hier ist die Rede von der Art Liebe, die sich für gewöhnlich in einer Kombination von (u.A.) leidenschaftlicher Zugeneigtheit, Sehnsucht nach Nähe, nervösen Blicken, Kribbeln im Bauch, Steigerung der Herzfrequenz, schwitzigen Händen, langen Küssen und häufig auch sexuellem Begehren äußert. Für diese Art des Einander-zugetan-seins gibt es im Englischen den Begriff „romantic love“.


Von der Freiheit

Es verhält sich mit dem Selbstverhältnis von Menschen wie mit der Musik: Seine Konsonanz entsteht aus der Dissonanz und zehrt von ihr. Einklang mit sich ist aufgehobener Zwieklang. Wie in der Musik kennt das Austarieren der Integrität von Personen unendlich viele Formen. Alle Stimmigkeit aber bleibt auch hier relativ. Wäre sie absolut, wäre sie weder erkennbar noch fühlbar.
— Martin Seel

Wir bewegen uns also in einer Landschaft aus biologischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Prägungen, auf der Suche nach unserem eigenen, glückbringenden Weg.

Um dabei nicht allzu oft falsch abzubiegen oder ganz und gar verloren zu gehen, ist es wichtig zu wissen, wo man ungefähr hin möchte. Was sind unsere Wünsche, Ziele, Werte, Bedürfnisse, was Beziehungen angeht? Welche Beziehungsstrukturen ergeben sich daraus?


Wege


Für mich fühlt es sich an wie ein Umbauprozess, zuerst im Innen, dann im Außen. Oft auch umgekehrt oder sich wechselseitig bedingend. Wir verändern die Art, wie wir über Beziehungen, Menschen, uns selbst denken. Und wir verändern die Art, wie wir Menschen wählen, wie wir uns auf sie beziehen, wie wir Beziehungen räumlich und zeitlich strukturieren, usw.

Meist ist dies ein langwieriger Prozess, weil Gefühle sich oft nicht so verhalten, wie wir uns das wünschen würden. Trotz aller Reflektion stimmen sie häufig nicht sofort – manchmal auch niemals - mit unseren Ansichten und Überzeugungen überein.

Dabei sind sie ein guter Indikator dafür, was uns wichtig ist im Leben, was unsere wichtigsten Bedürfnisse sind, aber auch dafür, welche Annahmen wir mehr oder weniger bewusst mit uns herumtragen, die uns das Leben und Lieben schwer machen. Die Philosophin Martha Nussbaum versteht Gefühle nicht als körpergesteuerte Affekte, sondern als kognitive Antworten auf unsere Auffassung von Werten.

Emotionen sind intelligent: Sie zeigen uns, welchen Dingen und Personen außerhalb unseres Kontrollbereichs wir große Wichtigkeit für die Entfaltung und das Glück unserer Person beimessen. Insofern sind sie ein wesentlicher Bestandteil unserer ethischen Überzeugungen. Die kognitiven Inhalte unserer Emotionen werden wesentlich geprägt von unserer Gesellschaft und Kultur; sie sind einem sozialen Prozess individuellen Lernens und Entwickelns unterworfen.

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass unsere Gefühlsreaktionen sich verändern, wenn unsere Überzeugungen sich verändern. Wir sind unseren Gefühlen also nicht ausgeliefert. Üblicherweise wird versucht, dem Leiden an der Liebe mit immer mehr Selbstreflektion und „Heilung“ durch Techniken aus der Psychologie beizukommen (Arbeit mit dem sogenannten inneren Kind oder frühkindlichen Erfahrungen, Elternbeziehung, Traumaheilung u.v.m.).

Doch bereits Simone de Beauvoir kritisierte, dass die Psychoanalyse das Individuum immer nur aus seiner Bindung an die Vergangenheit erklären will, nicht aber im Hinblick auf die Zukunft, in die es sich entwerfen will. Ich will nicht behaupten, dass psychologische Techniken nicht hilfreich sein können, doch sie bergen die Gefahr, in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben und sich fortwährend in immer neuen Spiralen reflexiver Selbstbetrachtung zu drehen.

Alternativ oder ergänzend dazu können wir uns entscheiden, wie wir lieben und leben wollen. Nach welchen Werten und Tugenden wir streben möchten, welchen Handlungskonzepten wir folgen möchten, welche Prioritäten wir setzen. Was es für uns bedeutet, ein sinnerfülltes Leben zu leben.

Das ist viel leichter gesagt, als getan. Unsere Prägung durch Eltern und Kindheit, unsere gesellschaftlich bestimmte Auffassung von Normalität, unsere biologische Natur und Erfahrung unseres Selbstes steht der Verwirklichung unserer Träume oft im Wege.

Nun leben wir in einem Spannungsfeld zwischen dem, was wir sind und können und dem, was wir sein und tun wollen. Der Trick ist, die Konflikte, die daraus entstehen, kreativ und schöpferisch zu nutzen, statt an einer Konzeption des Lebens festzuhalten, der zufolge ein „gutes Leben“ frei von Konflikten und Spannungen sei.

Der Mensch ist ein System, dass weder fragil noch stabil ist. Es verändert sich ständig (ähnlich wie der menschliche Körper ein System fortlaufender Transformations-, Aufbau- und Abbauprozesse ist) und ist gerade deshalb extrem widerstandsfähig. Wir sind dazu in der Lage, uns immer mehr zu stärken und zu erweitern, in dem wir ein kleines Stückchen über die Grenzen unserer Komfortzone hinausgehen.

Man könnte einwenden, dass die Liebe nicht nur eine Wahl ist, sondern auch über uns kommt. Viele Menschen sind - oder fühlen sich zumindest - zunächst machtlos, wen sie lieben, wie heftig, wieso. Erst nach einiger Zeit ist man in der Lage, über Kompatibilität nachzudenken und darüber, wie man diese Liebe gestalten will.

Wir haben eine Wahl, nicht nur bezüglich des Objektes unserer Liebe, sondern auch hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung. Beides hängt in meinen Augen stark davon ab, welche Geschichte wir um unsere Liebe herum erfinden, sowohl allgemein als auch in Bezug auf einzelne Personen.

Welche Regeln, Institutionen und Wünsche verbinden wir damit, welche Bedürfnisse hoffen wir damit zu erfüllen (Resonanz, Spiel, Selbsterfahrung, Wachstum, Bindung, Sicherheit, Sex, Kooperation … )? Welchen Stellenwert hat sie in unserem Leben, welches Verhältnis von Autonomie und Verbindlichkeit tut uns gut? Welche Strukturen wollen wir bilden (Verknüpfungen autonomer Wesen? Eine Gruppe/Clan? Paarkonstellationen?)

Das Gefühl ist frei, wenn es von keiner fremden Vorschrift abhängt, wenn es ohne jede Scheu in seiner Aufrichtigkeit gelebt wird.
— Simone de Beauvoir



Ziele


Eine kleine Auswahl möglicherweise hilfreicher alternativer Metaphern:

Ovid setzte die Liebe mit einem Handwerk gleich: Man kann sie erlernen und man muss sie üben. Sie ist eine Fähigkeit, deren Entwicklung Talent und Lernbereitschaft erfordert.

In ähnlicher Weise könnte man Liebe als Praxis verstehen, die spezielle Güter pflegt (Küsse, Liebesschwüre und dergleichen). Sie wird um ihrer Selbst willen ausgeübt und dient keinem weiteren Zweck als jenem, die entsprechenden Tätigkeiten möglichst vortrefflich auszuführen. Eine Praxis wird gewöhnlich kulturell tradiert.

Man kann jede Liebe auch als einzigartiges Kunstwerk verstehen, wo zwei oder mehr Menschen kreativ und schöpferisch zusammenarbeiten, um eine gemeinsame ästethische Erfahrung zu kreieren. Gemeinsame Ziele, Geduld und Disziplin sind dabei hilfreich.

Ich experimentiere gerade damit, von einer bienenstockähnlichen Lebensstruktur auszugehen: Hier ist die Liebe nicht mit der herkömmlichen Form von „Beziehung“ gleichgesetzt, die üblicherweise auf das Verfolgen gemeinsamer Ziele und dem Aufbau eines gemeinsamen Lebens hin entworfen wird.

Menschen sind aufeinander in freundschaftlicher, kameradschaftlicher Weise bezogen. Interaktionen dienen nicht in erster Linie dem Herstellen von Intimität durch Offenbarung des eigenen Inneren, sondern bestimmten Zwecken wie dem Austausch von Informationen, wechselseitigem Lernen und anderen Formen der Kollaboration.

Anders als in einem echten Bienenstock hat die Liebespraxis bzw. Liebeskunst in meiner Vision jedoch einen besonderen Platz (ich möchte nicht alljährlich alle Männchen töten, wenn sie ihren einzigen Zweck erfüllt haben).

Was verändert sich dadurch in unserer Liebensweise? Die Menschen, mit denen wir kollaborieren, mit denen wir Leben teilen und aufbauen, müssen nicht mehr die Kriterien von „psychologischer Vereinbarkeit« und „erotischer Anziehungskraft“ erfüllen.

Die individuellen Eigenschaften, Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen der Beteiligten sind weniger von Belang als ihre Handlungsstile, Tugenden und Fähigkeiten (z.B: Zuverlässigkeit, Klugheit, Mut, Mitgefühl, Weitsicht, Engagement). Sympathie ist schön und hilfreich, aber da es nicht darum geht, sich in allen Lebensaspekten aneinander anzugleichen, seine Persönlichkeiten wechselseitig in der Tiefe aufzuschlüsseln oder absolut authentisch zu sein, ist allumfassende Kompatibiltät nicht notwendig.

Ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit muss nicht mehr über die beständige Kommunikation über die Gefühle füreinander und bestimmte räumliche und zeitliche Strukturen hergestellt werden, sondern kann sich z.B. aus gemeinsamen Tätigkeiten, Projekten und Lebenszielen generieren. Vollkommene Offenheit über Gefühle muss nicht mehr als besonderer Modus zur Herstellung von Nähe gelten.

Wichtiger ist das Teilen von Gefühlen und existenziellen Handlungen. Menschen können willentlich Gefühle miteinander teilen, wenn sie 1. aufgrund einer gemeinsamen Weltsicht und eines gemeinsamen Vokabulars für Betroffenheiten hinsichtlich eines Ereignisses ähnlich emotional betroffen sind, 2. diese Betroffenheit wechselseitig wahrnehmen, 3. die Situation gleichbedeutend bewerten, 4. aus ihren Gefühlen heraus gemeinsam handeln und 5. eine gemeinsame Erzählung hinsichtlich des Gefühls haben.

Das Teilen von Gefühlen und existenziellen Handlungen verdichtet sich für viele Liebende in der sexuellen Begegnung. Insofern können wir den sozialen Raum des Sinnlichen als einen Bereich verstehen, der unsere gemeinschaftlich organisierte Kultur durchdringt.

Beziehungen können insofern absichtslos werden, als dass sie keinem vorgebenen Verlauf folgen müssen, um essenzielle Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn die Versorgung mit Sinn, Anerkennung und Sicherheit durch den Zusammenhalt der Gruppe oder des Netzwerks gesichert ist, wird die Liebe von vielen Ansprüchen und Erwartungen befreit.

So wird es um einiges leichter, die praktische Anerkennung der Autonomie des Anderen als zentralen Bestandteil einer Kunst der Liebe zu üben. Eine solche Liebe fühlt sich für mich sehr respektvoll an, weil sie dem Gegenüber sein unergründliches Geheimnis und seine Unberechenbarkeit zugesteht.

So wird es möglich, sich von der unerklärbaren Widerfahrnis der Liebe ergreifen und verzaubern zu lassen, ohne sich distanzieren oder in Panik ausbrechen zu müssen. Weil sie nicht zwangsläufig in unser Leben eingreift und wesentliche Veränderungen hervorruft und weil wir hinsichtlich unseres allgemeinen Wohlbefindens weniger abhängig von unseren Liebespartnern sind, haben wir mehr Kontrolle über die Wahrung unserer Autonomie.

Gleichzeitig haben wir uns in diesem Szenario zur überwältigenden Liebeserfahrung moralisch zu verhalten, um das Gruppengefüge nicht zu gefährden. Hier stellt sich die Frage, welche Ethik wir für unsere Liebeskultur entwerfen wollen.

Die Veränderung und Neuschöpfung von Narrativen und Bildern die Liebe betreffend kann auf einer sehr persönlichen, individuellen Ebene geschehen. Man kann damit aber auch weiter gehen und versuchen, eine neue Liebeskultur zu prägen.

Um eine bestehende erfundene Ordnung zu ändern, müssen wir zuerst an eine andere erfundene Ordnung glauben, sagt Harari. Ich sprach oben vom Mythos der romantischen Liebe. Erfundene Wirklichkeiten haben nur solange Macht in der wirklichen Welt, wie alle – oder zumindest die meisten – an sie glauben.

Man kann die Formen des Zusammenlebens neu gestalten, indem man die Mythen verändert und neue Geschichten erzählt. Neue Metaphern und Bilder erfindet. Eine Lebensweise, die von genügend Individuen geteilt wird, kann zu Beziehungen führen, die keiner institutionalisierten Beziehung gleichen und zu einer Kultur und Ethik führen, glaubt Michel Foucault.

Heutzutage haben wir nicht nur Zugang zu den kulturellen Mustern, in die wir hineingeboren werden, sondern können zu einem gewissen Grad selbst wählen, welche kulturelle Tradition für unser Leben bestimmend wird. Nicht nur das: wir können selbst aktiv Kultur erschaffen, zumindest Subkulturen, die uns einen fordernden und fördernden Lebensraum bietet.

Inspiriert durch

Friedemann Karig – Vom Ende der Monogamie.
Martha Nussbaum – Upheavals of Thought.
Robert und Robert.
Einem unveröffentlichten Manuskript von Julio Lambing.
Yuval Noah Harari - Eine kurze Geschichte der Menschheit.
Carlo Strenger – Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit.
Liebevollen Kämpfen mit und für Simon.
Simone de Beauvoir – Das andere Geschlecht.
Martin Seel – 111 Tugenden, 111 Laster.
Einem kurzen, aber sehr inspirierenden Gespräch mit Judith.
Michel Foucault (o.J.): Von der Freundschaft als Lebensweise.
Volkmar Sigusch – Das Sex-ABC.

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