Sinnliche Begegnung der dritten Art
Guter Sex fällt nicht vom Himmel. Sexualität ist keine natürliche Angelegenheit, sondern sexuelle Handlungen sind in vielfacher Hinsicht kulturell und sozial geformt.
In unserer Kultur werden sie mehrheitlich in einem von zwei Modi vollzogen: Ersterer geschieht zum Zwecke beiderseitigen Vergnügens und spielt sich meist in privaten Räumen und im Rahmen einer romantischen Zweierbeziehung ab, seltener an öffentlichen Orten und/oder zu mehreren.
Im Idealfall ist diese Form von Sexualität einvernehmlich, liebevoll und intim. Doch trotz unzähliger Magazinartikel und Youtube-Videos zum Thema wird von ihr in der Regel fast nur hinter vorgehaltener Hand und mit engen Freundinnen oder Therapeutinnen gesprochen.
Über eigene Erfahrungen mit dem zweiten Modus offen zu reden ist nachgerade undenkbar: Sex im Tausch gegen Geld gilt als unmoralisch, schmuddelig und erniedrigend für alle Beteiligten. Im besten Falle gilt der Freier als bemitleidenswerter Trottel, der seinen dunklen Trieben hilflos ausgeliefert ist. Sexarbeiterinnen[1] werden häufig entweder als passive, unmündige Geschöpfe hingestellt, die der skrupellosen Männermacht hilflos gegenüberstehen oder als lasterhafte Personen, die den männlichen Sexualtrieb zu Geld machen.
Viele stellen sich diesen Sex als ordinär, berechenbar und obszön vor, als eine Reinszenierung der zugespitzten Geistlosigkeit, die den Mainstream-Porno dominiert, bar jeder sozialen Einbindung. Daran lässt sich ablesen, dass, ungeachtet unserer kürzlichen „sexuellen Befreiung“, unser christliches und philosophisches Erbe nach wie vor unsere sexuelle Kultur prägt.
Sie ist nach wie vor durchwebt von Scham und Schuld, vor allem dann, wenn Sexualität nicht durch eine Paarbeziehung legitimiert und veredelt wird. Die Trennung von Geist und Körper und das Misstrauen gegenüber letzterem wird zwar hinterfragt, aber noch lange nicht überwunden.
Erfüllende Sexualität gilt als wesentliche Voraussetzung für ein gutes Leben. Dennoch erklärt uns selten jemand, wie diese denn zu verwirklichen sei.
Ich bin davon überzeugt, dass sexuelles Glück ohne sexuelle Würde unerreichbar ist. Deshalb beschäftige ich mich seit einigen Jahren mit der Frage, wie sexuelle Dienstleistungen zur Gestaltung und Weiterentwicklung einer würdevollen sexuellen Kultur beitragen können.
In den 60er und 70er Jahren gab es in unserem Kulturkreis eine Explosion der sexuellen Künste, die mit dem Kinsey-Report, den Forschungen Masters und Johnsons und den Filmen Oswalt Kolles begann und seither auch in Deutschland eine Fülle von Sex-Ratgebern und -Workshops hervorbrachte.
In dieser Zeit entwickelte sich auch das sogenannte Neotantra zu einer beliebten Form der Selbsterfahrung. Es kann als Ergebnis mehrmaliger kultureller Überformungen der indischen Tantra-Tradition verstanden werden. Indisches Tantra und Neotantra haben mittlerweile kaum noch Ähnlichkeit miteinander, abgesehen vom Streben nach persönlicher Weiterentwicklung und einem guten Leben.
Im Neotrantra gehört eine erfüllte und glückbringende Sexualität unbedingt dazu. In diesem Zusammenhang entstand ein ganzheitliches, sinnliches Verehrungsritual, das eine Genitalmassage miteinbezog. Seit den 80er Jahren wird es in etwas abgewandelter Form unter dem Namen „Tantra-Massage“ als sexuelle Dienstleistung angeboten. Von Anfang an ging es den Praktizierenden nicht nur um ein Einkommen und sinnliches Vergnügen, sondern darum, eine bestimmte Berührungskultur zu entwickeln.
Ist Tantra-Massage Prostitution?
Die Tantra-Massage versteht sich als Berührungsritual und Berührungskunst[2]. Sie kann als symbolhaftes Geschehen verstanden werden, das aus einem mehrstündigen Berührungsablauf besteht.
Dabei sind die Rollen ganz klar verteilt: Die Empfangende bleibt die ganze Zeit über passiv, die Gebende aktiv. Teilweise ist der Ablauf choreografiert, teilweise handelt die Gebende spontan. Für sie geht es dabei in erster Linie um die aufmerksame und sorgfältige Ausübung von Handlungen, nicht um authentischen Ausdruck.
Das ist vielleicht zunächst nicht leicht zu begreifen: Sexualität erleben jenseits des eigenen Schlafzimmers, trotzdem in einem sicheren und vertrauensvollen Rahmen? Sinnliche Hingabe an einen fremden Menschen? Sorgsame, feinfühlige und in einem gewissen Sinn liebevolle Berührung – gegen Geld?
Doch diese „Entpersönlichung“ - unterstützt durch das Fließen von Geld! - ermöglicht erst das Bekenntnis zu und die Vermittlung von einem ganz bestimmten Umgang mit der Welt und mit Menschen. Dabei werden Werte, Tugenden und Fertigkeiten eingeübt, die zu einem guten Leben beitragen[3].
Die Distanz zur eigenen Person und die Fremdheit der Beteiligten ermöglicht eine un- beziehungsweise überpersönliche Erfahrung, die viele als große Bereicherung erleben.
Über Körperkontakt lassen sich Mitteilungen machen. Tantra-Masseurinnen haben in jahrelanger Ausbildung gelernt, Mitteilungen in Gebärden zu übersetzen. So lässt sich eine Form von Liebe erleben, die nicht authentisch „von Herz zu Herz fließt“, sondern sich in der Handlung, in der Berührung entfaltet: Unpersönliche und damit bedingungs- und absichtslose Liebe.
Auf diese Art vermittelt die Massage Gefühle von Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit, die nicht von einer persönlichen Beziehung abhängen und es dadurch ermöglichen, die eigene Sinnlichkeit entspannt, das heißt frei von Leistungsdruck, Perfektionismus und erlernten Verhaltensnormen zu erleben.
Eine der wichtigsten Botschaften dieses haptischen Erlebnisses ist meiner Ansicht nach, dass sinnlicher und sexueller Genuss Priorität haben darf. Dazu gehört das Reservieren von Raum und Zeit zu diesem Zwecke, eine wohlwollende Haltung dem eigenen Körpers und der eigenen Lust gegenüber, sowie Know-How und Feingefühl im sinnlichen Kontakt.
Hilfreich ist auch die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit in den Körper und die eigenen Empfindungen zu lenken. Viele nennen diesen Zustand Präsenz: Ganz im „Hier und Jetzt“ sein, wahrnehmen ohne zu denken. In der Massage kann man diese Fähigkeit gut üben. Die Berührungen lenken die Aufmerksamkeit in den Körper, bewusstes Atmen bringt die Gedanken zur Ruhe. Alle Gefühle und Reaktionen, die dabei aufkommen, sind willkommen. Die Tantra-Massage ist also nicht absichtslos, aber ergebnisoffen.
Sie ist außerdem ein Versuch, belastende und einschränkende Konditionierungen schrittweise aufzulösen (Sünde, Sexualmoral, Schuld, aber auch die Annahme, unsere Sexualität sei maßgeblich bestimmend für unseren Selbstwert oder „Marktwert“) und damit einen Raum für freie, kreative Entfaltung zu eröffnen.
In einer Welt, die auf Planbarkeit ausgerichtet ist, ehrt sie die Widerfahrnis und die Unvorhersehbarkeit des Lebens. Sie übt ein Lauschen auf den Augenblick in einer Gesellschaft, die hauptsächlich auf die Zukunft ausgerichtet ist. Mitten in einer alles enthüllen wollenden Kultur birgt sie ein unergründliches Geheimnis und wahrt ebenso das Geheimnis der Beteiligten.
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Berührungskunst
Berührungskunst ist die Massage zum Einen im Sinne von Kunstfertigkeit. In einer mehrjährigen Ausbildung werden dafür notwendiges Wissen, Technik und Fähigkeiten gelehrt.
Eine gelingende Tantra-Massage ist voraussetzungsreich: Die Gebende braucht Kenntnisse in Anatomie, insbesondere in der Funktionsweise von Geschlechtsorganen. Ein großes Repertoire an Massagegriffen und Berührungsweisen befähigt sie, auf die Empfangende individuell einzugehen. Des Weiteren sind Intuition, Präsenz, innere Ruhe und Einfühlungsvermögen unabdingbar.
Nicht alle hinreichenden Voraussetzungen für eine gelingende Massage sind erlernbar (zum Beispiel persönliche Reife und seelische Standfestigkeit). Deshalb bleibt manchen Menschen der Weg in die professionelle Massagetätigkeit verwehrt.
Zum Anderen kann jede Massage als flüchtiges Kunstwerk aus Raum und Zeit, Klängen und Düften, zwei Körpern, Gefühlen, sexuellen Energien, Herzschlag, Atem, Gesten und Gebärden betrachtet werden.
Es wird gemeinsam erschaffen: Wie bei einem Tanz gibt es eine Führende und eine Geführte; die Durchlässigkeit und Reaktionsfähigkeit der Empfangenden ermöglicht es der Gebenden, sich einem feedback-loop hinzugeben, der die Richtungen und Wendungen der Massage vorgibt. Oft fühlt sich dies an wie eine Meditation zu zweit, die eine wohlige innere Leere erzeugt, eine befreiende Selbst-Vergessenheit auf beiden Seiten.
Ich betrachte die Tantra-Massage als philosophisches Handeln, bzw. handelnde Philosophie, insofern, als dass sich die Gebenden zu einer ganz bestimmten, wertschätzenden Haltung zum Leben und zur Menschlichkeit bekennen und diese verbreiten wollen. Handelnderweise werden außerdem Tugenden, Fähigkeiten und Fertigkeiten eingeübt und demonstriert, die im gesamten Leben nützlich und glückbringend sind, wie beispielsweise Mut und Hingabe, Selbstbestimmtheit und Würde, Achtung und Respekt, Spielfreude.
Die Tantra-Massage wirft außerdem tiefgreifende Fragen auf, die jede für sich, aber auch wir als Gesellschaft beantworten müssen: Welchen Stellenwert soll Sinnlichkeit in unserem Leben haben? Wie stellen wir sexuelle Mündigkeit und Verantwortungsbewusstsein her? Wie wollen wir damit umgehen, dass wir einander begehren? Was wissen wir darüber, was sexuell erlebbar ist? Was wissen wir nicht? Sind wir glücklich mit unserem Sex? Warum haben wir ihn? Was können wir von der Erkenntnis ableiten, dass innige sinnliche Begegnung zwischen Fremden und im Tausch gegen Geld möglich ist, die sich keineswegs schmuddelig anfühlt?
Als dritter Modus sexueller Handlung eröffnet die Tantra-Massage philosophische Tiefen, aus denen sich womöglich noch so mancher Schatz wird heben lassen.[4]
Sexuelles Glück ist ein Ergebnis sowohl unserer Kultiviertheit als auch unseres Fragens und Hinterfragens.
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Prostitution und sexuelle Kultur
In meiner Vision einer zukünftigen sexuellen Kultur sind sexuelle Bildung, das Erwerben sinnlicher Kunstfertigkeit und erotisches Philosophieren akzeptierte Freizeitbeschäftigungen. Sexualität würde ebenso wie Tanzen, Töpfern und Kochen als Praxis eigener Art betrachtet werden; eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird und bei der es vor allem darum geht, sie gut und freudvoll auszuüben.
Seit einiger Zeit entstehen und verbreiten sich neue Formen sexueller Dienstleistung und entsprechende Ausbildungskonzepte, die ganzheitliche Körperarbeit und sinnliches Vergnügen mit Beratung, Coaching, teilweise auch mit therapeutischen Ansätzen verbinden. Surrogatarbeit (Sexualbegleitung), Sexological Bodywork und Expertise in BDSM können in speziellen Trainings erlernt und unter dem Dach seriöser Institute angeboten werden.
Daneben gibt es ein vielfältiges Angebot an Seminaren, Workshops und Selbsterfahrungskursen zu unterschiedlichen sinnlichen Themen. Rundherum gedeihen verschiedene sexuelle Subkulturen (unter anderem Polyamorie, BDSM und Neotantra), in denen das gemeinsame Erlernen sexueller Fertigkeiten bereits Normalität ist und in denen sexuelle Kultiviertheit gepflegt und verbreitet wird.[5]
[1] Die Begriffe „Prostitution“ und „Sexarbeit“ werden meist synonym verwendet, sind jedoch bei genauem Hinsehen mit unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft. Etymologisch geht das Wort „Prostitution“ auf „lat. prōstituere ‘vorn hinstellen, seinen Körper öffentlich zur Unzucht preisgeben, schänden’“ zurück. Der Begriff „Sexarbeiter*in“ bzw. „sex worker“ wurde 1978 von Carol Leigh geprägt. Er soll helfen, negative Konnotationen abzubauen und Tätigkeiten im Bereich der Sexualität in eine Reihe mit anderen Dienstleistungen stellen. Der BesD (Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen) spricht sich im Zusammenhang mit dem Prostituiertenschutzgesetz für seine Verwendung aus, um die gesamte Bandbreite der Betriebsformen zu erfassen.
[2] Ein Interpretationsansatz, der im Umfeld der Tantra-Massage-Praxis Ananda und der Kulturinitiative „Der Dritte Ort“ geprägt wurde. In diesem Zusammenhang ist insbesondere Stefanie Imann als treibende Kraft zu nennen.
[3] Dies ist ein möglicher Weg zur Erklärung von Ritualen, der vom deutsch-indischen Kulturtheoretiker Narahari Rao entwickelt wurde.
[4] Selbstredend sind nicht alle Kundinnen der Tantra-Massage daran interessiert, ihre Betrachtung und ihr Erleben von Sexualität zu hinterfragen. Auch zur Tantra-Massage kommen Menschen, die nach sexuellem Vergnügen hungern; die einen nackten Körper spüren, die „Druck ablassen“ wollen. Das ist legitim, so wie auch andere Formen von Sexarbeit legitim sind, solange sie einvernehmlich, respektvoll und freiwillig ausgeübt werden. Die Qualität unserer Arbeit ist anders - nicht notwendigerweise besser als die Angebote der „klassischen“ Sexarbeit.
[5] Dieser Text ist nicht nur mein Werk: Ich danke Julio Lambing für seine kritische Lektüre und Johannes Heck, Bernd Barenberg und Eva Degenhardt für hilfreiche Gespräche.
Quellen/Weiterführendes:
Lambing, Julio (2011): Der blutige Kuss der Göttin. Die Bedeutung einiger sexueller Rituale im Tantra und Neo-Tantra
Lambing, Julio (2016): Ars Amatoria. Die Geburt der handelnden Liebe aus dem Sex (unveröffentlichtes Manuskript)
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