#6 Ist Tantra-Massage kulturelle Aneignung?

Die Geschichte einer erfundenen Tradition
Lesezeit: 7 Minuten

Eigentlich wollte ich nur ein Buch über Tantra-Massage schreiben, das ohne esoterisches Blabla & imaginierte Rückbezüge auf eine angeblich indische Tradition auskommt.

Doch dann bestand ein von mir sehr geschätzter Freund und scharfsinniger Beobachter des Zeitgeists darauf, dass man heutzutage kein Buch über Tantra-Massage schreiben könne, ohne über kulturelle Aneignung zu sprechen. „Der Vorwurf wird kommen in den nächsten Jahren" prophezeite er.

Bis dahin hatte ich mich recht erfolgreich um das ganze Thema "woke culture" herumgeschlängelt. Aber ich wollte mich nicht blamieren - vor meinem Freund nicht, und vor meinen Leser*innen nicht, die in dieser Hinsicht weniger faul und ignorant sind als ich.

Also machte ich mich schlau - und habe mehr Fragen als vorher. Ich verstehe jetzt, warum das Thema wichtig ist.

Aber auch, warum sich so vielen Leute die Nackenhaare sträuben: was darf man denn jetzt eigentlich noch? Sind jetzt (ähnlich wie Cis-heteronormative-Männer) alle weißen, privilegierten Menschen verpflichtet, Buße zu tun, sich zu grämen, zu schämen und schuldig zu fühlen angesichts einer Kolonialgeschichte, für die sie nichts können und an der sie nicht beteiligt waren? Wer profitiert wirklich von dieser Debatte? Haben sich nicht immer schon Kulturen gegenseitig beeinflusst? Kann man das überhaupt unterbinden? Und wäre das wünschenswert? Sollte man versuchen, Grenzen zwischen Kulturen zu ziehen? Oder kommen wir damit in Teufels Küche?

Was ist Kulturelle Aneignung?

Eine sehr einfache Definition von kultureller Aneignung würde lauten: wenn man sich etwas nimmt, das einem nicht gehört, ohne sich über dessen Herkunft voll bewusst zu sein und ohne zu fragen, und es dann unsachgemäß verwendet oder verändert. Schlimmstenfalls verkauft man es dem Eigentümer in dieser veränderten Form wieder zurück.

Bekannte Beispiele: das Tragen von Dreadlocks, indigene Symbole & Muster als Tattoos oder Modeaccessoires, Yoga und „Plastik-Schamanismus".

Tantra-Massage: Made in Germany

Manchmal wird immer noch behauptet, die Tantra-Massage stünde in einer nicht weiter spezifizierten „jahrtausendealten" indischen Tradition. Das ist blanker Unsinn: aus Indien ist keine Praxis belegt, die der Tantra-Massage ähnlich sieht.

Die Tantra-Massage wurde in den 80er Jahren von einem Deutschen erfunden.

Problem gelöst?

Leider nein: Denn ohne die britische Kolonialherrschaft über Indien, ohne Rassismus und ohne die typische Unverschämtheit, die westlichen Kulturen leider zu eigen ist (war?), hätte es die Tantra-Massage nie gegeben.

Indien als Projektionsfläche

Es war die sensationslüsterne Presse des viktorianischen England, die das Wissen um Tantra erstmals in die westliche Öffentlichkeit trug. Diese reißerischen Berichte waren nicht nur eine perfekte Projektionsfläche für die gleichermaßen prüden wie notgeilen Brit*innen. Die Verleumdung der indischen Kultur als degeneriert und pervers diente auch der Legitimation der Kolonialherrschaft.

Andererseits gab es aber auch sehr gewissenhafte erste Übersetzungen tantrischer Texte durch westliche Gelehrte wie Arthur Avalon, der zu diesem Zwecke mit einem indischen Team zusammenarbeitete.

Dass diese zahmen Texte außerhalb akademischer Konzepte vergleichsweise unbekannt blieben, ist wenig überraschend.

Die Hippies der 70er und 80er Jahre interessierten sich mehr für die Neuauflagen „tantrischer Sexualmagie" britischer Okkultisten des 19. Jahrhunderts - und für einen indischen Philosophieprofessor, der sich Bhagwan und später Osho nannte.

Der erfand gerade in Poona das Neo-Tantra – und war dabei augenscheinlich mehr beeinflusst von westlicher Philosophie und Psychologie als von Tantra. Immerhin bestand seine Zielgruppe hauptsächlich aus den spirituell Ausgehungerten Europas und der USA, an die er seine Lehren erfolgreich verkaufte.

Denn für die war Indien jetzt nicht mehr rückständig und obszön, sondern ein spiritueller, sinnlicher und friedlicher Sehnsuchtsort.

Mindmap zu Hautrausch - Inside Tantra-Massage, Kapitel 6: Ist Tantra-Massage kulturelle Aneignung?

Die Geburt der Tantra-Massage

Zur selben Zeit gründete "Andro" Andreas Rothe das erste Tantra-Zentrum Deutschlands und erfand eine erotische Massage in Ritualform, die er später "Tantra-Massage" nannte. Obgleich er in Indien eine traditionelle Tantra-Ausbildung absolviert hatte, war das, was in seinen Kursen stattfand, vermutlich mehr von Wilhelm Reich geprägt als von Shiva, Shakti oder Kali.

In den 90ern wurde dieses sinnliche Ritual von einer Gruppe junger Frauen in ihre heutige kommerzielle Form gebracht – weil sie einerseits eine lukrative Erwerbsmöglichkeit witterten, andererseits in ihrer sexuellen Kultur dringenden Verbesserungsbedarf sahen.

Die meisten waren dem Deer-Tribe verbunden, einer spirituellen Gemeinschaft, die nach eigener Aussage die Weisheit indigener Völker Nordamerikas repräsentierte.

Erst später verschmolz die Tantra-Massage mit dem Neo-Tantra, das – ganz im Stil der New-Age-Bewegung – gierig spirituelle Konzepte aus der ganzen Welt in sich aufsog.

Damals galt das Borgen (manche würden sagen: Stehlen) aus anderen Kulturen noch nicht als verwerflich, sondern als Zeichen der Wertschätzung.

Vor allem aber war es ein Akt der Verzweiflung: Das trotzige Ablehnen der eigenen Kultur und Tradition erzeugte ein schmerzhaftes Vakuum, insbesondere im Hinblick aus Spiritualität und Sexualität.

Das "Tantra" in der Tantra-Massage ist der Versuch, eine Praxis zu unterfüttern, für die es in unserer Kultur keine Vorbilder und keine Worte gab – einer Kultur, wo Spiritualität schon so lange ohne Lüste und Begehrlichkeiten gedacht wurde, wo Müßiggang und Hedonismus verpönt waren – und die deshalb keine sexuellen Künste kannte.

Das Nachahmen echter oder eingebildeter sexueller Künste aus anderen Kulturen hat erheblich zur Verbesserung unserer sexuellen Kultur beigetragen.

Heute versteht sich die Tantra-Massage als Kulmination, Verkörperung und praktische Anwendung "tantrischer" Grundprinzipien. Eine Lüge – aber eine nützliche: So hat sie sich von "herkömmlichen" erotischen und sexuellen Praktiken abgesetzt und sich über die letzten 40 Jahrzehnte eine beachtliche, positive Reputation erarbeitet.

Tantra-Massage dekolonisieren

Aus einer woken Perspektive könnte man Tantra wohl nur dekolonisieren, indem man den Fokus auf Sex und Kommerzialisierung reduziert und sich auf das "Echte" besinnt, indem man die Praktiken, Symbole und Konzepte aus der Perspektive ihrer Ursprungskultur würdigt, anstatt sie unserem heutigen Verständnis von Wellness-Sex und Wellness-Spiritualität anzupassen.

Damit würde sich die Tantra-Massage in Nichts auflösen. Es würde auch keinen Sinn machen: Sie ist eine Melange aus so vielen Kulturen, dass sie kaum noch entflochten werden können: vom buddhistischen Konzept der Achtsamkeit über Chakren und Energiekaläle, über Techniken aus der hawaiianischen Lomi-Lomi-Massage bis zur angeblich taoistischen Intimmassage

Es gibt keine "Ursprungskultur".

Also Tantra-Massage abschaffen? Ächten? Verbieten? Wer würde sich dadurch besser fühlen? Wer würde davon profitieren?

Gibt es andere Wege, Tantra-Massage auf eine respektvolle Weise auszuüben, die ihre diversen Quellen anerkennt und würdigt?

Sind wir mittlerweile soweit, dass wir die Stützräder abschrauben und wirklich eigene, neue Konzepte von würdevoller Sexualität (und vielleicht sogar zeitgemäßer, intelligenter Spiritualität) entwickeln können – und eine allgemeinverständliche Sprache dazu?

Und wie wäre es, wenn wir endlich aufhören zu lügen und die wahre Geschichte der Tantra-Massage erzählen? Die finde ich persönlich viel faszinierender und empowernder als den Mythos von der indischen Tradition.

Es gibt viel zu lernen: über unsere eigene Geschichte, den Wandel sexueller Kultur mit dem Zeitgeist, über andere Kulturen und unsere Sehnsucht nach Lust, Sinn und Freiheit.

Mehr historische Bildung auf allen Seiten ist unabdingbar, um über dieses Thema endlich ohne Schnappatmung reden zu können – und bessere Lösungen zu finden als Canceln und Ächten.

Ich jedenfalls bin froh, dass ich mich damit beschäftigt habe: Ich habe viel gelernt, und bin noch lange nicht fertig damit, die Geheimnisse der Tantra-Massage aufzustöbern.

Außerdem bin ich sehr gespannt, ob es wirklich echte, indische Tantriker*innen gibt, die sich überhaupt für das interessieren, was wir hier nackt bei Kerzenschein auf beheizten Massagelagern so treiben...



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#5 Deine ganz eigene Wahrheit