#3 Fremde Haut
Distanz als Weg zur Nähe
Lesezeit: 5 Minuten
"Wie kannst du das nur?" – Diese Frage höre ich oft, wenn ich von meiner Arbeit als Tantra-Masseurin erzähle. Meist schwingt darin eine Mischung aus Bewunderung und Grusel: Die Vorstellung, völlig fremden Menschen auf allen Ebenen so nah zu kommen, erscheint vielen unvorstellbar.
Aber was, wenn gerade diese Fremdheit der Schlüssel zu einer ganz besonderen Form der Nähe ist?
Dieser Tage schreibe ich am dritten Kapitel von „Hautrausch – Inside Tantra-Massage“. Darin erkläre ich, warum wir die Tantra-Massage als „Berührungs- und Verehrungsritual“ bezeichnen. Einen Aspekt dieses Themas, den ich besonders interessant finde, möchte ich hier ausführlicher erläutern: Die Unpersönlichkeit.
Die Magie des Rituals
Stell dir vor, du triffst einen Menschen zum ersten Mal. Keine gemeinsame Geschichte. Keine vorgefassten Meinungen. Keine Erwartungen an die Zukunft.
Klingt das nach dem perfekten Setup für Intimität? Überraschenderweise: ja. Denn genau diese Abwesenheit von persönlicher Verbindung schafft einen einzigartigen Raum der Freiheit.
In der Tantra-Massage spielt mein Ich, die Alltags-Eva mit ihrem persönlichen Geschmack, Präferenzen, eigenen Belangen und Bedürfnissen keine Rolle. Ich schlüpfe in die Rolle der Masseurin, werde durch das Ritual zur Gebenden, Umsorgenden, Haltenden und sinnlich-lustvoll Erweckenden. Meine Grenzen bleiben natürlich intakt - ich nehme mich selbst noch wahr und passe meine Handlungen dem an.
Aber ich bin als Person nur bedingt vorhanden: Für die Zeit der Massage diene ich nicht mir selbst, sondern meinem Gegenüber, mehr noch aber dem Ritual an und für sich und dem, wofür es steht.
Wie Fremdheit Nähe schafft
Warum sollte man eine „unpersönliche“ sexuelle Erfahrung machen wollen? Und überhaupt: „Unpersönliche Intimität“ – das klingt auf den ersten Blick völlig paradox. Zumal: Sind wir nicht schon entfremdet genug in einer Welt, in der wir...
den meisten Menschen nur in Form von Rollen und Funktionen begegnen?
kaum noch zu Fuß gehen und die Welt hauptsächlich durch Fenster und Bildschirme hindurch betrachten?
unseren Körper eher notgedrungen durch die Gegend tragen und der uns nur auffällt, wenn er nicht funktioniert wie er soll?
Zeit nicht mehr erleben, sondern nur noch nutzen, sparen und managen?
Doch das ist hier alles nicht gemeint.
Unpersönlich meint im Falle der Tantra-Massage keineswegs kalt oder distanziert, ganz im Gegenteil: Die Idee dahinter ist, dass wir uns gewissermaßen auf viel intimere Weise aufeinander einlassen können, wenn es keine persönliche Beziehung gibt.
In der ritualisierten Fremdheit, im Fehlen einer gemeinsamen Geschichte und emotionalen Bindung wird vieles erst möglich, was die Tantra-Massage so besonders macht:
Freiheit von Erwartungen
Keine Angst vor dem "Morgen danach"
Keine Sorge um das "Was denkt er/sie von mir?"
Keine Verpflichtung zur Gegengabe in gleicher Form
Neugier ohne Vorurteile
Jede Begegnung ist ein unbeschriebenes Blatt
Keine vorgefassten Meinungen blockieren die Wahrnehmung
Offenheit für das, was entstehen will
Klare Grenzen
Der finanzielle Ausgleich schafft einen klaren Rahmen
Die Rollen sind definiert, das entlastet
Freiheit von Beziehungserwartungen
Dadurch, dass wir uns fremd sind, können wir uns neugierig und unvoreingenommen aufeinander einlassen.
Die Befreiung vom "Ich"
Im letzten Post haben wir uns angeschaut, wie im 19. Jahrhundert nicht nur die Sexualität „erfunden“ wurde, sondern auch das moderne Konzept der Psyche.
Dinge wie Begehren, Streicheln, Küssen, Eindringen – alles wurde in die künstliche Kategorie „Sex“ gepackt. Dazu kam eine neue Vorstellung von inneren „seelischen Räumen“, in denen mysteriöse Kräfte lauern, die man erforschen und kontrollieren sollte, um das eigene Verhalten in den Griff zu bekommen.
So verlagerte sich die Macht von äußeren Vorschriften hin zur Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle, eng verknüpft mit dem neuen Ideal des „wahren Selbst“ und der „Authentizität“.
Transparenz und Selbstentblößung als Zustand der Selbstvergewisserung sind jedoch Feinde der Freiheit, weil sie das Geheimnis und die Unberechenbarkeit des Lebens und des Menschen eliminieren.
Inspiriert von den sexualisierten Ritualen des traditionellen Tantra entwickelten die Pionier*innen der Tantra-Massage eine Form von ritualisiertem Sex, also eine sinnliche, unpersönliche Form von Berührung – ohne emotionale Bindung, die Nähe anders erlebbar macht.
Hier sind wir nicht...
Lara oder Tobias,
Chefin oder Angestellte,
attraktiv oder unattraktiv,
erfolgreich oder gescheitert,
…
Das Ritual der Tantra-Massage befreit uns zu einem gewissen Grad von uns selbst, von unserer Geschichte, unseren Interessen und Begehrlichkeiten. In diesem rituellen Raum, frei von unserer persönlichen Geschichte und Erwartungen, können wir uns selbst – wieder ein Paradox – oft näher kommen als im Alltag: unvoreingenommen, wertfrei und voller Hingabe.
Wenn Fremdheit verbindet
Für die Dauer des Rituals müssen wir nicht "wir selbst" sein. Paradoxerweise macht uns genau das freier für echte Begegnung. Wir können:
Zärtlichkeit unabhängig von Sympathie erleben
Lust ohne Begehren erfahren
Intimität ohne Verliebtheit oder Vertrautheit genießen
Was zunächst wie ein Widerspruch erscheint – Intimität ohne persönliche Bindung – entpuppt sich als Chance. Eine Chance, Nähe neu zu denken und zu erleben.
Vielleicht liegt gerade darin ein Schlüssel für unsere Zeit: In der Fähigkeit, uns zu begegnen, ohne uns gleich ganz zu kennen. In der Freiheit, uns in unserer Verletzlichkeit zu zeigen, ohne die Last von Erwartungen und Verpflichtungen. Intimität mit Fremden eröffnet uns einen Raum, in dem wir uns ganz auf den Moment einlassen können – ohne die Fesseln von Geschichte oder Zukunft. Es ist diese unverfälschte Nähe, die uns erlaubt, einfach zu sein, ohne uns an etwas festhalten zu müssen.
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