Sexuelle “Energie”
Die Viktorianer*innen töten Gott, erfinden die Sexualität und entdecken Tantra
Lesezeit: 4 Minuten
Im letzten Newsletter ging es um indisches Tantra und darum, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, wie vor tausenden von Jahren ein paar sex-positive Inder*innen zuerst sinnliche Massagen und dann ihre Erlebnisse in einer Sharing-Runde austauschten.
Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, wie viel vom „Original“ Tantra eigentlich in der Tantra-Massage steckt, und irgendwann festgestellt: Erstens ist es nicht viel oder zumindest kaum noch zu identifizieren. Zweitens finde ich andere Fragen viel spannender.
Zum Beispiel die, warum Tantra überhaupt in den Westen importiert wurde. Man hätte es ja auch als bloße spirituelle Kuriosität abtun und ignorieren können.
Die kurze Antwort ist: Die Viktorianer*innen waren gleichermaßen prüde wie geil – und sie wollten mindestens genauso hart unterhalten werden, wie sie arbeiteten. Außerdem hatten sie gerade die Sexualität erfunden und waren geradezu besessen davon.
Die Dampfkessel-Metapher
Wir befinden uns mitten in der industriellen Revolution – alles dreht sich um Effizienz, Kontrolle und: Energie. Das Potenzial der Dampfmaschine und die Entdeckung der Elektrizität sorgten für Aufregung und führten zu einem neuen, maschinenhaften Verständnis von Körpern und Sex.
Sexualität galt nun als Energie, die – ähnlich wie ein Dampfkessel – unter Druck stand und nur durch strenge Kontrolle und moralische Disziplin „sicher“ gehalten werden konnte. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts konnte man allerdings am eigenen Leib erleben, dass sich Begehren und Lüste nicht so einfach unter Verschluss halten lassen, wie es sich die christliche Kirche gewünscht hätte.
Überhaupt hatte Gott so einiges von seiner einstigen Autorität verloren. Und so gab man sich unter, hinter und neben der offiziell immer noch strengen Sexualmoral recht ungehemmt seinen teilweise abseitigen Neigungen hin. Prostitution und Pornografie waren auf viktorianischen Straßen so leicht zu finden wie Fish and Chips.
Elektrizität und „unsichtbare Kräfte“ im Körper
Die Entdeckung und Erforschung der Elektrizität, vorangetrieben von Wissenschaftlern wie Michael Faraday, machte die Idee unsichtbarer, aber mächtiger Energien populär und eröffnete neue Vorstellungen darüber, wie der menschliche Körper funktioniert.
In der Psychologie und Medizin dieser Zeit sprach man zunehmend von „Trieben“ und „Energien“ im Körper, die wie elektrische Ströme fließen und mit psychischen sowie physischen Zuständen verknüpft sind. Sigmund Freud entwickelte seine Theorie des „psychischen Apparats“ und sah den Sexualtrieb als zentrale Energie, die der menschlichen Psyche innewohnt und gesteuert werden kann.
Hier begann übrigens auch die Verwendung des Begriffs „Energie“ im esoterischen und spirituellen Sprachgebrauch, für das, was man zum Beispiel in Indien „Prana“, in China „Chi“, in Japan „Ki“, in Südamerika „Mana“ und in Hawaii „Ha“ nennt.
Ventil zu oder Ventil auf?
Was passiert, wenn man all diese „sexuell aufgeladenen“ Gedanken zu einem wissenschaftlichen Forschungsgebiet erklärt?
Die Sexualwissenschaft wird geboren – und zwar eine, die stark geprägt ist von einem Verständnis des menschlichen Körpers als Maschine sowie einem Disziplinierungsideal, das vom industriellen Zeitgeist inspiriert ist. Nie zuvor wurde so viel über Sex geredet: Die Konstituierung der Sexualität als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand war der perfekte Vorwand, um sie unablässig und in allen Details zu erörtern.
Und dann kam Tantra.
Zuerst in Form von reißerischen und nicht immer ganz wahrheitsgetreuen Berichten aus dem kolonialisierten Indien. Später folgten mehr oder weniger (eher weniger) akkurate erste Übersetzungen britischer Orientalist*innen, und schließlich wurde Tantra als magische Technik betrachtet, die in okkultistischen Geheimgesellschaften mit westlicher Sexualmagie vermischt wurde.
Eine spirituelle Tradition, die die Kraft des sexuellen Begehrens für spirituelles Wachstum und magische Handlungen nutzt, trifft auf eine Gesellschaft, die sich ihrer spirituellen Anbindung gerade weitgehend entledigt hat, die die unsichtbare Macht des Sex unter allen Umständen kontrollieren will und in deren Tiefen gerade eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit und individueller Emanzipation wächst.
So fand Tantra im Westen eine neue Bestimmung: als Spiegel für die verborgensten Sehnsüchte der effizienz- und disziplingeplagten frühen Opfer des Kapitalismus, der gerade so richtig Fahrt aufnahm.
Mehr darüber im zweiten Kapitel von „Hautrausch – Inside Tantra-Massage“
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