#1 Warum ich über Tantra-Massage schreibe
6 Gründe, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen
Lesezeit: 4 Minuten
Warum sollte man über sinnliche Körperarbeit nachdenken?
Die Einleitung von “Hautrausch - Inside Tantra-Massage” ist fertig - aber mein Hirn ist noch nicht fertig mit Nachdenken. Hier ein kleiner Einblick…
Ganz kurz gefasst könnte man sagen: Tantra-Massage ist Sex-Wellness auf hohem Niveau mit künstlerischem Anspruch. Warum dann das ganze Gerede, wenn es nur darum geht, sich so richtig gut anzufassen?
1. Weil es sonst niemand tut
Zumindest nicht so, wie ich es gerne hätte. Oder zumindest sind mir bis jetzt noch keine guten Texte untergekommen (für Empfehlungen bin ich sehr dankbar!) – Texte, die auf esoterische und psychologische Sprache verzichten. Texte, die sich nicht damit zufrieden geben, die zahlreichen positiven Wirkungen der Tantra-Massage zu unterstreichen.
Texte, die tiefer gehen.
2. Weil es immer noch Vorurteile gibt
Tantra fasziniert und polarisiert, wenngleich wenige wirklich wissen, worum es sich dabei handelt: Gruppensex? Mit Räucherstäbchen aufgehübschte, überteuerte Prostitution? Ein spiritueller Weg der Selbsterkenntnis? Esoterisches Tohuwabohu mit Öl und Orgasmen? Ein Symptom der Selbstoptimierungskultur, die uns auch noch in den intimsten Lebensbereichen an uns selbst zweifeln lässt? Techniken der Luststeigerung?
Oder ist es etwa Teil einer ars erotica, erotischer Kunstfertigkeit, die in unserer Kultur bislang gefehlt hat?
Manche kritisieren das zeitgenössische „Pop-Tantra“ für seine Oberflächlichkeit und kommerzielle Ausrichtung, andere sprechen von kultureller Aneignung, wieder andere halten es für eine hanebüchene Fehldeutung indischer Weisheitslehre. Diese Kritik ist berechtigt, unterschlägt aber die Komplexität der Angelegenheit.
3. Weil ich gemeinsam nachdenken will
Das, was wir hier und heute „Tantra“ nennen, wird seit etwa 200 Jahren stetig neu aus westlichen, östlichen, alten und neuen Elementen erschaffen und kann nach wie vor als kreative Antwort auf die unerfüllten Bedürfnisse unserer Zeit betrachtet werden: Sinnhaftigkeit und Spiritualität. Lebensfreude und Ekstase. Selbstachtung als körperliches und sinnliches Wesen. Freiheit.
Insofern halte ich diese Praxis für weitaus weniger schädlich als andere Formen kultureller Aneignung. Trotzdem muss man darüber nachdenken, ob wir beim Borgen aus Indien und anderen Kulturen respektvoll genug vorgehen.
Vor allem sollten wir die Gelegenheit nutzen, uns weiterzubilden hinsichtlich der kulturellen Einflüsse, aus denen die Tantra-Massage entstanden ist.
Es soll uns nicht zum Nachteil gereichen.
4. Weil sie nicht aufhört, mich zu faszinieren
Ich gebe seit über 10 Jahren Tantra-Massagen und entdecke immer noch neue Aspekte, die ich gerne ergründen würde:
Tantra-Massage ist Tiefenentspannung und Ekstase, erotische Virtuosität, eine Art Meditation oder Trance, ein Ritual, sinnliche Körperarbeit, Selbsterfahrung, haptische Poesie, Wellness, Heilung, sexuelle Dienstleistung, somatisch-künstlerisch-politische Praxis, sexuelle Bildung der etwas anderen Art und zuweilen in der Tat spirituell.
5. Weil Sex nicht so wichtig ist wie wir glauben
Ja, wir fassen Genitalien an – und zwar raffiniert, ausführlich und mit warmem Öl. Aber nicht alles, was mit Genitalien zu tun hat, hat auch etwas mit „Sex“ zu tun. Wir arbeiten mit Sexualität, wir erforschen, kultivieren und zelebrieren sie. Wir arbeiten mit Lust, Erregung, Sinnlichkeit, Erotik, Orgasmen. Aber ganz ohne Ficken, Bumsen und Blasen (übrigens auch meistens ohne Räucherstäbchen und esoterisches Gehabe).
Einerseits inspiriert uns die Tantra-Massage, darüber nachzudenken, was „Sex“ eigentlich ist, welchen Stellenwert Sinnlichkeit, Erotik und Ekstase haben oder haben sollten. Sie kann helfen, mehr über unser individuelles Lustvermögen zu erfahren und sexuelle Kompetenz und Kunstfertigkeit zu erlangen.
Andererseits kann sie dazu beitragen, den Sex von dem Thron zu stoßen, auf den ihn die sex-positive Welle gesetzt hat und eine gewisse Gelassenheit in dieser Hinsicht zu fördern.
6. Weil mir die Tantra-Massage am Herzen liegt
Ich halte sie für eine wertvolle kulturelle Praxis, die erhalten und gepflegt werden sollte. Das bedeutet auch, aktuelle Trends zu hinterfragen:
Die Professionalisierung und Kommerzialisierung war extrem nützlich, um Tantra-Massage mainstream-tauglich und für viele Menschen zugänglich zu machen. Leider ist in diesem Prozess viel von ihrem ursprünglichen, revolutionären Spirit verloren gegangen. Es wäre so schade, wenn die Tantra-Massage verflachen würde.
Auch der gewohnheitsmäßige Konsum solcher Erlebnisse muss meiner Ansicht mit Skepsis betrachtet werden: Sollten wir nicht lieber darüber nachdenken, wie wir ein (nicht nur in sexueller Hinsicht) lustvolleres, entspannteres, tieferes Leben leben können?
Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der wir Tantra-Massagen nicht für Geld geben müssten, sondern als eine Form des sinnlichen Müßiggangs aus purer Freude verschenken wollten?
Unter anderem deshalb lohnt es sich, in die Geschichte der Tantra-Massage zu blicken: Dort trifft man unter anderem auf indische spirituelle Underdogs, viktorianische Okkultisten, die mit Sex die Gesellschaft befreien wollten und auf die Revolutionär*innen der 70er Jahre.
Was haben sie uns zu sagen?
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